Die jüdischen Schüler des Andernacher Stiftsgymnasiums
Ansprache, gehalten von Dr. Wolfgang P. Fischer
Die Geschichte der Stadt Andernach im Mittelalter und in der frühen Neuzeit ist gleichzeitig die Geschichte einer grundsätzlichen Judenfeindschaft der Stadt, die es unter keinen Umständen dulden wollte, daß Juden sich dauerhaft in ihren Mauern niederließen. Diese Judenfeindschaft berührte auch die Geschichte unserer Schule, als der Rat der Stadt Andernach im Jahre 1573 lieber auf tausend Goldgulden verzichten wollte, die Kurfürst Salentin ihr für die Zwecke der hiesigen Lateinschule schenkte. Als Gegenleistung für diese Geldsumme sollte nämlich die Stadt sich bereit erklären, zwei Juden mit ihren Familien vorübergehend Zuflucht zu gewähren. Die Stadt konnte die Aufnahme dieser beiden Familien, denen bald noch ein paar andere Familien folgten, nicht verhindern. Sie versuchte jedoch mit großer Hartnäckigkeit, diese Familien wieder loszuwerden, und ruhte nicht eher, bis sie 1596 vom Kölner Kurfürsten Ernst von Bayern ein Privileg zugesprochen bekam, das ihr gestattete, die in Andernach wohnenden Juden auszuweisen und keine Juden mehr in der Stadt aufzunehmen. Am 17. März 1597 lud der Rat der Stadt alle in Andernach wohnenden Juden vor, ließ ihnen das Privileg des Kurfürsten vorlesen und forderte sie auf, die Stadt binnen drei Wochen zu verlassen. Während des Dreißigjährigen Krieges fanden dann nochmals einige Juden Schutz in der Stadt. Kurfürst Maximilian Heinrich von Bayern (1650-1688) bestätigte jedoch der Stadt Andernach das Privileg von 1596 und befahl am 22. Februar 1655 allen Juden, die sich wegen der „Unsicherheit auf dem flachen Land“ in der Stadt niedergelassen hatten, Andernach binnen drei Monaten zu verlassen. Der Jude Daniel („Daniel Judt“) ließ diese Frist verstreichen, so daß der Landesherr ihm am 11. Mai 1656 befahl, Andernach „binnen 14 Tagen zu verlassen“. So lebten seit dem 17. Jahrhundert in Andernach keine Juden mehr. Sie durften sich nur in den Dörfern der Umgebung niederlassen.
Die Französische Revolution brachte zwar die zivilrechtliche Gleichstellung der Juden; jedoch weder die Franzosenherrschaft noch der Beginn der preußischen Herrschaft im Rheinland (1815) öffnete ihnen die Tore der Stadt Andernach. Dies tat erst das preußische Gesetz über die Verhältnisse der Juden vom 23. Juli 1847. Bereits ein Jahr später, im Jahre 1848, kam mit Salomon Landau der erste Jude nach Andernach. Salomon Landau stammte aus Koblenz, wo er 1791 geboren wurde. Der zweite uns namentlich bekannte Jude, der sich in Andernach niederließ, war Simon Gottschalk, Sohn des Mayener Juden Nathan Gottschalk. Simon Gottschalk wurde 1828 in Mayen geboren. Er kam 1860 nach Andernach.
Im 19. Jahrhundert regte sich kein Widerstand, als diese Juden nach Andernach kamen. Salomon Landau wurde bereits 1849 in die St.-Quirinus-Nachbarschaft aufgenommen, ein Zeichen, daß er keinen Anfeindungen ausgesetzt war. Beide, sowohl Salomon wie auch Gottschalk, waren gebildete Kaufleute und zeigten ihre Verbundenheit mit dem jungen Andernacher Progymnasium, indem sie die Sammlung, die der Notar Henrich 1860 zugunsten der Schule veranstaltete, durch eine eigene Geldspende unterstützten. In den folgenden Jahren verlegten bald auch andere jüdische Familien ihren Wohnsitz nach Andernach. Familien wie Weber, Mendel, Koßmann, Loeb, Bermann, Lambert oder Kaufmann wurden Andernacher Bürger mit allen Rechten und Pflichten. Sie prägten bald das Andernacher Stadtbild, und ihre Söhne schickten sie auf das Progymnasium.
Von 1808 bis 1937 besuchten insgesamt 90 jüdische Schüler unsere Schule (École secondaire, höhere Stadtschule, Progymnasium, Stiftsgymnasium). 41 von ihnen (45,5%) kamen aus Andernach, 49 (54,5%) von auswärts. Acht Juden erwarben bis 1904 am Progymnasium das Zeugnis des Einjährigen. Bei 294 bestandenen Prüfungen in der Zeit von 1864 bis 1904 entspricht dies einem prozentualen Anteil von 2,7 %. Nur vier jüdische Schüler bestanden zwischen 1904 und 1931 das Abitur. Bei 478 Abiturienten waren dies gerade 0,8 %.
Die israelitischen Schüler des Andernacher Progymnasiums waren nie sehr zahlreich. Ihre Höchstzahl von sieben erreichten sie in den Schuljahres 1872/73 (7,7 % der Gesamtschülerzahl) und 1876/77 (6,5 %) und war danach gewissen Schwankungen unterworfen. In den Schuljahren 1896/97 und 1897/98 besuchte mit Julius Berger aus Niederbreisig nur ein einziger Jude die Schule, ehe mit Beginn des Schuljahrs 1904/05 die Zahl der israelitischen Schüler wieder auf sechs anwuchs (2,8 %) und damit fast wieder den Höchststand des Schuljahres 1876/77 erreichte. Julius Berger wurde eine führende Persönlichkeit des Zionismus. Im Jahre 1907 wurde er nach dem Tod Theodor Herzls Generalsekretär des jüdischen Weltkongresses und Mitbegründer von zwei jüdischen Hilfsfonds, die die Ausreise auswanderungswilliger Juden nach Palästina und den Aufbau Palästinas finanzierte. Er starb 1948 hochgeehrt in Palästina, wohin er bereits 1922 emigriert war.
Das Haupteinzugsgebiet für die auswärtigen jüdischen Schüler war die Pellenz mit den Dörfern
- Saffig (7 Schüler),
- Miesenheim (5 Schüler),
- Kruft (5 Schüler),
- Nickenich (4 Schüler),
- Plaidt (1 Schüler).
Von der rechten Rheinseite kamen 10 Schüler, davon sechs allein aus Leutesdorf. Aus Leutesdorf stammten die ersten drei jüdischen Schüler, die im Jahre 1816 unsere Schule besuchten. Je ein Schüler kam aus Fahr, Wollendorf, Neuwied und Niederbieber.
Von rheinabwärts kamen vier jüdische Schüler aus Sinzig, zwei aus Remagen und je einer aus Niederbreisig, Bonn, Rheindorf und Hersel.
Von rheinaufwärts kamen nur zwei jüdische Schüler: ein Schüler aus Koblenz und ein Schüler aus Mühlheim, heute Ortsteil von Mühlheim-Kärlich.
Aus der Eifel kamen fünf Schüler: vier aus Mayen und einer aus Wittlich. Der Schüler aus Wittlich mit dem Namen Franz Archenhold ist in doppelter Hinsicht erwähnenswert. Er hatte nicht nur den weitesten Weg, sondern er war 1911 auch der erste jüdische Abiturient unserer Schule.
Die ersten jüdischen Schüler, deren Eltern sich in Andernach niedergelassen hatten, wurden erst ab dem Jahre 1871 am Progymnasium angemeldet. Es waren Nathan (1871), Marcus (1872) und Benjamin Koßmann (1873). Auch Simon Gottschalk schickte seine Söhne Julius und Joseph (1873 und 1876). Seine beiden Söhne waren die ersten jüdischen Schüler, die an unserer Schule das Einjährige machten, Julius Gottschalk 1879, sein Bruder Joseph 1883.
Aus der Endzeit der Weimarer Republik seien die Namen folgender Schüler genannt, an die sich noch manche Andernacher erinnern können: Ernst und Hans Loeb, Eugen Meyerhoff aus Remagen, Egon Kahn, Horst Heymann, Heinrich Milradt (eher bekannt als Heini Wislicki) und Hans Fernich.
Der Besuch des Gymnasiums als Mittel der gesellschaftlichen Anerkennung
Wenn wir uns die soziologische Herkunft der jüdischen Schüler seit 1865 anschauen, so lautet in den Schülerlisten die Angabe über den Beruf des Vaters in der Regel „Kaufmann“ oder „Handelsmann“. Juden, deren Eltern den Aufstieg in das Bildungsbürgertum bereits geschafft hatten, waren nur in zwei Fällen vertreten. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang Ernst Harff, dessen Vater Rechtsanwalt in Bonn gewesen war, und Horst Heymann, Sohn des Apothekers Fritz Heymann, aus der Friedrichstraße zu Andernach.
Zu den Kaufleuten, die es zu großem Reichtum brachten, gehörten die Fruchthändler Simon Gottschalk und Abraham Weber sowie Moritz Loeb, deren Söhne die Handelsgeschäfte weiterführten und im 20. Jahrhundert das wirtschaftliche Leben der Stadt entscheidend prägten. Als Fruchthändler bezeichnete sich auch Bertha Koßmann, die Witwe Jakob Koßmanns, jedoch sind die Söhne nach dem Tod ihrer Mutter nicht in Andernach geblieben. Zu den reichen Kaufleuten gehörten auch die Pferdehändler Minkel in Mayen und Andernach. Zu den begüterten Eltern dürfte auch der Mayener Kaufmann Max Rosenthal und der Andernacher Tabakhändler en gros Simon Kahn gehört haben.
Wenig begüterte Kurzwarenhändler waren Emanuel Kaufmann, Vater von Jakob und Berthold Kaufmann, und Sigismund Simon, Vater der Schüler Erich und Bruno Simon.
Am häufigsten werden unter den kaufmännischen Berufen der Eltern die Metzger und Viehhändler genannt, wobei recht viele Viehhändler gleichzeitig auch den Metzgerberuf ausübten. Dabei kam es nicht selten vor, daß der Vater bei der Anmeldung seines Sohnes seinen wahren Beruf hinter der Bezeichnung „Handelsmann“ verbarg. In solchen Fällen handelte es meist um Familien, die in wirtschaftlicher Hinsicht nicht auf Rosen gebettet waren, aber offensichtlich die gymnasiale Bildung ihrer Söhne als Mittel des gesellschaftlichen Aufstiegs erstrebten.
Diskriminiert wurden die jüdischen Schüler nicht. Der preußische Staat betrachtete sie als Staatsbürger israelitischer Konfession, die den katholischen und evangelischen Christen gleichgestellt waren. Der katholische Charakter der Schule schloß nicht aus, daß der Verwaltungsrat des Progymnasiums auch jüdische Schüler bei der Vergabe von Freistellen berücksichtigte, sofern sie bedürftig waren und auf Grund ihrer schulischen Leistungen als „würdig“ befunden wurden. Insgesamt kamen drei jüdische Schüler in den Genuß einer solchen Freistelle. Sie hießen Salomon und Wolff Mendel (1883 bis 1886) und Berthold Kaufmann (1907 bis 1911).
Wie die anderen Juden kämpften auch unsere ehemaligen Schüler an allen Fronten für ihr deutsches Vaterland. Zwei von ihnen, Berthold Kaufmann aus Andernach und Walter Feist aus Koblenz, ließen dabei ihr Leben.
Drittes Reich
Nach den Osterferien des Jahres 1933 wurde die Unterscheidung zwischen „arischen“ und „nichtarischen“ Schülern in das Schulrecht eingeführt und Schritt für Schritt eine sogenannte „völkische Auslese“ vorgenommen. Dies war der Beginn der administrativen Diskriminierung der jüdischen Schüler. Am 13. Mai 1933 ging in der Schule eine erste Verfügung des Oberpräsidenten ein, in der es zunächst hieß: „Die Aufnahme nichtarischer Schüler ist hinauszuschieben.“ Bald danach galt auf Grund des Gesetzes vom 25. April 1933 („Überfüllungsgesetz“) für die „Zulassung von Nichtariern” auch für die Schulen die Grundregel, daß die Zahl der jüdischen Schüler einer Schule „dem Anteil der Nichtarier an der reichsdeutschen Bevölkerung“ zu entsprechen habe. Nach den Bestimmungen dieses Gesetzes durfte bei der Neuaufnahme von Schülern die Zahl der jüdischen Schüler künftig nicht mehr als 1,5% der Gesamtschülerzahl betragen. Juden, „deren Väter im Weltkrieg an der Front für das Deutsche Reich oder seine Verbündeten gekämpft“ hatten, und Juden, die einen arischen Vater oder eine arische Mutter oder „zwei Großeltern arischer Abkunft“ hatten, durften bei der Berechnung der Anteilzahl von 1,5% der Schülerzahl unberücksichtigt bleiben.
Das Überfüllungsgesetz vom 25. April 1933 gestattete Direktor Dr. Verbeek, bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1936 weiterhin jüdische Schüler aufzunehmen. So wurden im Dritten Reich noch fünf jüdische Schüler am Stiftsgymnasium neu angemeldet. Es waren Hans Kahn, Werner Weinberg, Erwin Minkel, Siegbert Portje und der noch in Andernach lebende und heute unter uns weilende Günther Berg. Die Namen von Werner Weinberg und Siegbert Portje befinden sich auf der Gedenktafel, die wir heute enthüllen. Sie wurden in einem Vernichtungslager ermordet.
Den schulischen Quellen kann man allerdings nicht entnehmen, wie die jüdischen Schüler unter Direktor Dr. Verbeek behandelt wurden und unter welchen Umständen sie schließlich die Schule verließen. Dagegen wissen wir, daß sein Nachfolger Julius Pentz die wenigen Juden an seiner Schule persönlich drangsalierte.
Die jüdischen Schüler wurden bis November 1938 an den deutschen Schulen geduldet. Das galt auch für das Andernacher Stiftsgymnasium. Der Mordanschlag auf Ernst von Rath, der die Reichskristallnacht auslöste, veranlaßte dann den Reichserziehungsminister Matthias Rust, alle jüdischen Schüler durch Erlaß vom 15. November 1938 von den deutschen Schulen zu entfernen. Auf Grund dieses Erlasses mußte auch der letzte jüdische Schüler das Stiftsgymnasium verlasssen. Es war Erwin Minkel, dessen Abgangszeugnis das Datum vom 19. Dezember 1938 trägt. Der vorletzte jüdische Schüler der Schule war Siebert Portje. Er war bereits am 31. Oktober 1937 abgegangen.
Von den Nazis ermordete ehemalige jüdische Schüler des Stiftsgymnasiums
Leopold Kallmann
Der älteste der Ermordeten war Leopold Kallmann, der am 2. August 1864 in Wollendorf als Sohn des Kaufmanns Simon Kallmann senior geboren wurde. Leopold Kallmann besuchte die Elementarschule in Wollendorf und trat Ostern 1876 in die Sexta des damaligen Andernacher Progymnasiums ein. Sein letzter bekannter Wohnort ist Frankfurt am Main. Er wurde in das Konzentrationslager Theresienstadt gebracht und starb dort am 11. Dezember 1942.
Maximilian Klee
Maximilian (Max) Klee (geboren am 28. März 1894) war der Sohn des Saffiger Metzgers Abraham Klee. Er war einer der vier jüdischen Schüler, die im Schuljahr 1904/05 die Sexta des Andernacher besuchten. Er verließ das Stiftsgymnasium als Quartaner, um einen praktischen Beruf zu erlernen. Danach verliert sich seine Spur, bis er wieder im Gedenkbuch des Bundesarchivs genannt wird. Sein letzter bekannter Wohnort war Bad Godesberg angegeben. Max Klee wurde nach Auschwitz deportiert, kam in diesem Vernichtungslager zu einem unbekannten Zeitpunkt um und wurde nach dem Krieg für tot erklärt.
Isidor Loeb
Isidor Loeb wurde am 9. Mai 1894 in Andernach geboren. Er war der Sohn des Kaufmanns und Viehhändlers Eduard Loeb, der selbst ein ehemaliger Schüler des Andernacher Progymnasiums war. Isidor Loeb besuchte das Stiftsgymnasium von 1904 bis 1911 und erwarb das Zeugnis der Berechtigung zum einjährig-freiwilligen Militärdienst ( das sogenannte Einjährige). Er lebte bis zu seiner Verschleppung in Andernach in dem Haus Hügelchen 5, das er nach dem Tod seines Vaters erbte. Dort erlebte er die Reichskristallnacht und die Ausschreitungen der SS. Im April 1942 wurde er zusammen mit anderen Juden aus Andernach in den Osten deportiert. Im Melderegister der Stadt steht der Vermerk „unbekannt verzogen”. Dieser Vermerk ging auf eine Anordnung des Reichssicherheitshauptamts der SS zurück und diente zur Verschleierung des Zielorts der einzelnen Transporte. Niemand weiß, wohin man Isidor Loeb verfrachtete oder wo er umgekommen ist. Am 21. Juli 1953 wurde er vom Amtsgericht Andernach für tot erklärt, wobei das Gericht den 31. Dezember 1945 als Todesdatum festsetzte.
Eugen Meyerhoff und Moritz Meyer
Eugen Meyerhoff wurde am 5. Mai 1901 in Andernach geboren und war Schüler des Stiftsgymnasiums von 1911 bis 1915. Er verließ Andernach zu einem unbekannten Zeitpunkt und zog nach Köln, seinem letzten bekannten Wohnort. Er wurde am 7. Dezember 1941 zunächst nach Riga verschleppt. Von Anfang November bis Ende Dezember 1943 wurde das Ghetto in Riga aufgelöst. 1.500 überlebende Insassen wurden in das KZ Kaiserwald gebracht. Wegen des Herannahens der russischen Front wurde auch das KZ Kaiserswald in den Monaten August und September 1943 geräumt. Die jüdischen KZ-Häftlinge, die den bisherigen Vernichtungsaktionen entgangen waren, wurden mit dem Schiff in das Lager Stutthof bei Danzig gebracht. Von dort wurden bald die noch lebenden Häftlinge weiter nach Deutschland verfrachtet und auf die in Deutschland liegenden Konzentrationslager verteilt. Auf diesem Weg muß Eugen Meyerhoff nach Dachau gekommen sein, wo er am 6. November 1944 starb. Moritz Meyer war einer der Fahrschüler aus Remagen. Er wurde am 8. August 1889 in Morbach geboren. Seine Eltern zogen jedoch bald nach Remagen, wo sein Vater Gustav Meyer eine Metzgerei eröffnete. Moritz Meyer wurde Ostern 1903 in die Obertertia aufgenommen und verließ das Andernacher Gymnasium zwei Jahre später (Ostern 1905) „mit dem Zeugnis zu OII“, um, wie Direktor Dr. Höveler in den Schülerlisten vermerkte, einen praktischen Beruf zu erlernen. Moritz Meyer, der möglicherweise bis zu seiner Deportation in Remagen blieb, wurde nach Sobibor deportiert und nach dem Krieg für tot erklärt.
Siegmund Weber und Albert Weber
Auch Siegmund Weber (geb. am 6. Juni 1877 in Andernach) wurde zusammen mit seiner Frau Margarete Weber, geb. Hamm, und seinem Sohn Albert deportiert und ermordet. Siegmund Weber - die Schülerlisten nennen ihn oft auch Sigismund Weber - war der Sohn des Kaufmanns Abraham Weber, der in der Kirchstraße eine Fruchthandlung gegründet hatte. Er trat 1888 in die Sexta des Progymnasiums ein. Er ging Weihnachten 1895 als Untersekundaner ab, um sich privat auf das Zeugnis für den einjährigen Militärdienst vorzubereiten. Sein Sohn Albert Weber (geb. am 24. Januar 1920 in Andernach) kam im Jahre 1930 als Sextaner an das Stiftsgymnasium und blieb bis Ostern 1936 an der Schule. Er wurde am 20. März 1936 in die Obersekunda versetzt und ging danach ab. Er war der letzte jüdische Schüler unserer Schule, der das Zeugnis der mittleren Reife erwarb. Der letzte bekannte Wohnort der Familie Siegmund Weber ist Köln. Am 24. November 1939 wurden Siegmund Weber, sein Sohn Albert und seine Frau ausgebürgert. Während des Krieges muß den drei die Flucht nach Frankreich geglückt sein. Im Jahre 1944 kamen sie in das französische Transitlager Drancy, von wo sie am 7. März 1944 mit dem Transport Nr. 69 (Convoi Nr. 69) nach Auschwitz verschleppt wurden. Dieser Transport bestand aus 1.501 Personen, 812 Männer und 689 Frauen, darunter 178 Kinder unter 18 Jahren. Nach der Ankunft des Transports wurden sofort 110 Männer und 80 Frauen selektiert und umgebracht. Nur 20 Verschleppte dieses Transports überlebten die Hölle von Auschwitz. Die Familie Weber gehörte nicht dazu. Siegmund Weber wurde nach dem Krieg für tot erklärt. Sein Sohn und seine Frau gelten als verschollen.
Werner Weinberg
Werner Weinberg, der am 5. März 1922 geboren wurde, war ein Enkel Moritz Loebs. Sein Vater war der Frankfurter Kaufmann Siegfried Weinberg, seine Mutter Blanka Weinberg, geborene Loeb. Nachdem sein Vater 1924 gestorben war, heirate die Mutter in zweiter Ehe Julius Michel, der den Stiefsohn 1933 auf das Stiftsgymnasium schickte. Werner Weinberg verließ das Stiftsgymnasium noch als Sextaner am 9. Januar 1934. Einer der Gründe war, daß Julius Michel recht früh daran dachte, Deutschland zu verlassen. Unter diesen Umständen hielt der Stiefvater es für besser, daß Werner vom Gymnasium abging, um einen praktischen Beruf zu erlernen, da ein solcher im Falle der Emigration im Ausland nützlicher als eine abgebrochene Schulausbildung war. Werner Weinberg blieb bis zur Beendigung seiner gesetzlichen Schulzeit in Andernach. Dann ging er nach Köln und begann eine Kürschnerlehre. Im Jahre 1937 floh Werner Weinberg nach Belgien. Der Grund seiner überstürzten Flucht war, daß man ihn der ”Rassenschande” beschuldigte, weil er sich bei einem Besuch in Andernach etwas näher für ein Mädchen interessierte, dem er im Treppenhaus des Hauses seiner Eltern begegnet war. Die Niederlage Frankreichs im Jahre 1940 besiegelte aber bald sein Schicksal. Nachdem es ihm gelungen war, nach Südfrankreich zu fliehen, wurde er im Sommer 1942 denunziert und von der französischen Polizei verhaftet. Der französische Rechtsanwalt Serge Klarsfeld fand seinen Namen in den Listen der Deportierten des Lagers in Les Milles bei Aix-en-Provence. Danach verließ Werner Weinberg dieses Lager am 2. September 1942 in einem Transport, der ihn zunächst in das berüchtigte Durchgangslager Drancy bei Paris brachte. Von dort wurde er ein paar Tage später, am 7. September 1942, mit dem Transport Nr. 29 nach Auschwitz transportiert. Seitdem ist Werner Weinberg verschollen. Er starb im Alter von zwanzig Jahren. Das genaue Datum seines Todes ist unbekannt.
Siegbert Portje
Siegbert Portje, geb. in Andernach am 25. Januar 1923, war der Sohn des Andernacher Kaufmanns Karl Portje. Sein Vater war ein ehemaliger jüdischer Frontkämpfer des 1. Weltkriegs, der in der Weimarer Republik zusammen mit seinem Geschäftspartner Dr. Leopold Loeb in der Kirchstraße 9 die Andernacher Getreide- und Futtermittelhandlung „Portje und Loeb“ eröffnete. Siegbert Portje wurde 1935 in die Sexta aufgenommen. Im Schuljahr 1936/37 war er Schüler der Quinta a und wurde am 19. März 1937 zusammen mit seinem Klassenkameraden Günter Berg in die Quarta versetzt. Wie bereits berichtet, verließ er die Schule am 31. Oktober 1937. Wann er Andernach, seinen letzten bekannten Wohnort, verlassen hat, ist unbekannt. Seine Spur findet sich während des 2. Weltkrieges in dem belgischen Internierungslager Malines (Mecheln) wieder, von wo er zu einem nicht bekannten Zeitpunkt nach Oberschlesien in das Konzentrationslager Cosel transportiert wurde. Sein Todesdatum ist unbekannt. Im Gedenkbuch des Bundesarchivs wird er als „verschollen“ verzeichnet. Er starb im Alter von 19 Jahren und ist damit das jüngste Opfer des Nazi-Terrors.
Die grauenvollen Ereignisse und Verbrechen der Vergangenheit lassen sich weder entschuldigen noch ungeschehen machen. Sie sind eine Mahnung an uns und an die uns nachfolgenden Generationen. Diesem Ziel dient die heutige Enthüllung der Gedenktafel mit den Namen der von den Nationalsozialisten ermordeten ehemaligen Schüler unserer Schule. Soweit sie in Andernach gelebt haben, können sich viele Andernacher noch persönlich an sie erinnern. Doch ehe wir zur Enthüllung schreiten, möchte ich ein Gedicht vortragen, das Prof. Dr. Ernst Loeb 1952, ein Jahr nach seinem ersten Besuch in Andernach nach seiner Emigration, geschrieben hat und das seine Witwe 1988 anläßlich der 2000-Jahr-Feier nach Andernach brachte. Dieses Gedicht, das mein Kollege Günter Haffke vom Bertha-von-Suttner-Gymnasium bereits 1990 in einer Ausstellung vorgestellt hat, ist eine nachdenklich stimmende Liebeserklärung an Andernach, das Loeb trotz aller Leiden stets als seine Vaterstadt betrachtete. Es wäre wert, nicht nur an unserer Schule im Unterricht besprochen und auswendig gelernt zu werden.
An meine Vaterstadt
Stätte meiner Kindheitstage,
Kleine Stadt am großen Strom,
Heimat, die ich in mir trage,
Turm und Gasse, Tor und Dom,
Ihr, der Kindheit frühe Bilder,
Mir für immer eingeprägt
Und um die sich heut' ein milder
Zauber des Erinnerns legt:
Erstes Schauen und Erfassen
Rankt um eure Formen sich,
Denn es bargen jene Gassen
Meine ganze Welt in sich.
Nie kannst du mir Fremde werden
Kleine alte Stadt am Rhein,
Denn von allem auf der Erden
Bist nur du in Wahrheit mein.
Dieses Band ist unzerschnitten
Durch der Zeiten irren Wahn:
Was ich fern von dir gelitten,
Hat man dir und mir getan.
Oft, in traumverlornen Stunden,
Kehr ich hoffend bei dir ein,
Von der Fremde zu gesunden
Und um ganz Ich selbst zu sein.
Nachtrag
Bereits am Tage der Enthüllung der Gedenktafel hatte ich andedeutet, daß wir nicht sicher könnten, alle jüdischen Opfer des Nationalsozialismus unter unseren ehemaligen Schülern erfaßt zu haben. Inzwischen ist bereits ein Name bekannt geworden, um den wir unsere Gedenktafel erweitern müssen. Es handelt sich um Hermann Weber. Sein Name steht nicht im Gedenkbuch des Bundesarchivs. Ich wurde erst auf ihn aufmerksam gemacht, als mir Herr Hans-Werner Ziemer aus Hennweiler im November 2001 eine Liste mit Deportationsopfern aus Andernach schickte, auf der der Name Hermann Weber vermerkt war. Bis dahin hatte ich Hermann Wweber, den ehemaligen Schüler des Stiftsgymnasiums, mit einem Hermann Weber verwechselt, der 1966 in Bogota (Kolombien) gestorben war. Herrn Ziemer sei an dieser Stelle ausdrücklich gedankt.
Hermann Weber war ein Sohn des jüdischen Fruchthändlers Abraham Weber und seiner Frau Johanna Weber, geb. Loeb, und ein Neffe des am 15. Dezember 1848 in Saffig geborenen Hermann Weber. Er war damit ein Bruder des bereits erwähnten Siegmund und ein Onkel Albert Webers.
Hermann Weber wurde am 5. Juli 1874 in Andernach geboren. Nach dem Besuch der Elementarschule trat er Ostern 1884 in die Sexta des damaligen Andernacher Progymnasiums ein. Er verließ die Schule Ostern 1889 als Quartaner, um „ein Geschäft zu lernen“, wie der Direktor in den Schulakten vermerkte.
Über das Leben Hermann Webers nach seinem Abgang von der Schule liegen mir keinerlei Erkenntnisse vor. Er muß jedoch zu einem unbekannten Zeitpunkt seinen Wohnsitz nach Köln verlegt haben; denn er wird im Gedenkbuch der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus aus Köln mit folgendem Eintrag erwähnt:
Weber, Hermann
geb. 05.07.1874 in Andernach
gest.: für tot erklärt
Deportation: Auschwitz.
Mit der Ergänzung unserer Gedenktafel werden wir uns wohl noch einige Zeit gedulden müssen, um abzuwarten, ob noch die Namen weiterer Opfer in Erfahrung zu bringen sind.