Quelle 3:
Und noch einmal nutzten wir eine weitere antikirchliche Verschärfung zu unseren Gunsten aus. Es wurde verboten, den Gymnasiasten über 14 Jahre Religionsunterricht in der Schule zu geben. So lud ich diese Gymnasiasten ins Pfarrhaus ein zu regelmäßigem Unterricht: Kirchengeschichte, in der es möglich war, immer wieder von der Treue zur Kirche, vom Geist des Martyriums, vom Zeugnis für Christus zu sprechen. Wir haben auf solche Weise jede Möglichkeit ausgenutzt, das Evangelium Christi zu verkünden, ohne direkt von Widerstand gegen das Terror-Regime der Nazis zu sprechen, vielmehr positiv dazu anleitend, den Geboten Gottes allezeit, in jeder Situation zu gehorchen, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen, gewiß dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, aber zuallererst Gott, was Gottes ist.
Man hat uns verstanden. Man begegnete uns mit dem größten Vertrauen. Zu uns konnte ein jeder in voller Offenheit sprechen. Wir vermochten in etwa Trost zu geben bei all dem Leid der vielen Gefallenen und in der Sorge um die noch größere Zahl all derer, die draußen an der Front standen, Trost im Gedanken an Gott, an seine Barmherzigkeit und seine gütige Vorsehung. Im Aufblick zu Gott fanden die Menschen auch Halt und Aufrichtung, wenn allmählich die Nachrichten von noch schrecklicheren Dingen zu uns drangen.
Verstanden hat uns in besonderer Weise die Elite der Jugend. Eines Tages fragte mich ein Gymnasiast vor Beginn der gemeinsamen Religionsstunde im Pfarrhaus: "Darf man seine Kirche mit der Waffe verteidigen?" Ich weiß nicht mehr genau, was ich geantwortet habe; wahrscheinlich etwas ausweichend, vorsichtig: etwa, das Evangelium mahne eher zum Ertragen, zum schweigenden Dulden; es sei nicht Sache der Kirche, solchen Widerstand zu leisten; aber der einzelne Bürger dürfe wohl doch, wenn alle Rechtsmittel erschöpft seien, Widerstand leisten, um die Wehrlosen vor Unrecht zu schützen. Das war schließlich ein Grundtenor all unserer Verkündigung. Eine Gruppe der Jungen hat dann schließlich, gewiß auch mit etwas Romantik, "Widerstand" zu organisieren gesucht. An einem Sonntagnachmittag, vielleicht im Sommer 1943, kommt schreckensbleich ein Mann zu mir: "Sie haben unseren Sohn W. verhaftet!" Was war geschehen? Ein Kreis von Freunden, 16-17jährige Jungen, hatte im Nachbardorf Namenstag gefeiert. Die Gestapo kommt und verhaftet einen von ihnen, ohne zu ahnen, daß der Haupträdelsführer, eben unser W., dabeisitzt. Er wirft sich sofort aufs Rad, fährt nach Hause, verbrennt das Gefährlichste der Korrespondenz (aber nicht alles!), alarmiert schriftlich die zu Alarmierenden, bringt die Briefe noch zur Post, verschließt dann das Haus (die Eltern sind spazierengegangen) und erwartet die Ankunft der Polizei. Als sie kommt, weigert er sich, das Haus zu öffnen, bevor die Eltern zurück sind. So wird Zeit gewonnen. Schließlich kommen die Eltern, und die Gestapo nimmt W. mit. Der Vater sagt mir noch: "Trotz allem Leid - er ging in solchem Stolz mit den Beamten, daß ich ihn am liebsten geohrfeigt hätte."
Von alldem hatten wir, die Geistlichen, auch nicht das mindeste erfahren. W. hatte eine "Widerstandsgruppe" von 15-18jährigen Jungen (vor allem wohl Gymnasiasten) aufgebaut, aus unserer und den Nachbarpfarreien, die entschlossen waren; im Falle eines gewaltsamen Vorgehens gegen die Kirche, diese mit Gewalt zu verteidigen. Alles war geschickt und "geheimbündlich" organisiert. W. kannte nur die wenigen unmittelbaren Unterführer; nur diesen gab er seine Anweisungen, Losungen und Befehle. Er kannte die Untergruppenmitglieder nicht unmitttelbar; diese empfingen alles nur durch ihre Gruppenführer. Es genügte daher, nach der Entdeckung der Gruppe jene wenigen Unterführer zu benachrichtigen, auf daß diese ihre Leute informierten. So wurden nur ganz wenige verhaftet und ins Jugendgefängnis gebracht. Da W. alle Verantwortung auf sich nahm, sich geschickt verteidigte und auch nicht einen weiteren Namen verriet, wurden alle freigelassen. Nur W. wurde ins Jugend-KZ im Reinhardswald oder auf dem Solling (bei Hofgeismar) gesteckt. Von da wurde er im Februar 1945 entlassen; bei der Musterung zum Waffendienst sagte er offen, daß er, nach dem, was geschehen war, sich zu keiner Truppe freiwillig melde. Der Arzt war so anständig, dies Tun zu billigen. Wenige Tage später rückten die Amerikaner ein. Natürlich war das Ganze eine große Ausnahme; immerhin vermag es zu zeigen, was in der Jugend steckte ...
aus "Erbe und Auftrag", Benediktinische Monatsschrift, 59/19 83, Sonderdruck, Heft 1