Quelle 1:
Nach Aufzeichnungen und Zeugenangaben von Hans-Clemens Weiler, Kruft bei Andernach, Schüler des Stiftsgymnasiums. 1942, in einer Zeit, wo die NSDAP und ihre gesamte Anhängerschaft auf der Höhe der Macht zu stehen schien, befaßte ich mich erstmals mit Politik. Es war mir damals zu Mute, als ob mir plötzlich die Augen geöffnet worden wären. Ich begann langsam, mir die innerpolitischen Zustände zu betrachten und alles, was ich bisher in einer sorglosen Jugendzeit wenig beachtet hatte, alle die Geschehnisse der letzten Jahre, denen ich oft in jugendlicher Begeisterung, ohne weiter zu überlegen, Beifall gezollt hatte, schienen plötzlich in einem ganz anderen Licht zu stehen. Bei meinen 16 Jahren war der Geist, durch Besuch des Gymnasiums zu scharfem Denken erzogen, endlich so weit entwickelt, daß ich in alles, was mir von nun an begegnete, tiefer eindrang.
Da stand auf einmal der nationalsozialistische Staat da als erbarmungsloser Verfolger von allem, was nicht mit ihm war. "Der Staat ist alles"! Dieses Schlagwort, das volle Erklärung gab für die Angriffe gegen die christlichen Kirchen in Deutschland. Und eben diese Angriffe gegen die Religion und Kirche betrafen mich selbst, da ich Katholik war. Ich vertrat den Standpunkt, daß ein Mensch mit gradem Charakter nicht leicht zwei Herren zugleich dienen kann. Wenn sich aber diese zwei Herren noch feindlich gegenüberstehen, dann ist der einzige Weg, sich auf eine Seite zu schlagen, auch wenn dies folglich eine Kampfansage an die Gegenseite bedeutet.
Mein Glaube stand über dem Staat, da gab es kein Rütteln dran. Da der Nationalsozialismus aber mit all seinen Ungerechtigkeiten und Schandtaten, auf die ich auch in eifrigem Studium seiner Geschichte immer wieder stieß, nun auch die Kirche befehdete, war ich es meinem Gewissen schuldig, mich gegen ihn zu stellen. Die Konsequenz war, daß ich mich auf einen passiven Widerstand einstellte. Ein unsagbarer Haß wuchs in mir gegen dieses Regime. In meinem Freundeskreise wurde diese Meinung bald von allen vertreten, und es gab manche erhitzte Debatte. Das Ende war jedesmal eine stille Wut, die in unseren jungen Herzen rumorte, weil wir dem Treiben der braunen Wölfe wehrlos gegenüber standen.
Im November 1942 wurde dann von meinem Kameraden L. (Lohner) und mir die "Michaeltruppe" gegründet, eine illegale christliche Jugendorganisation. Der Hauptzweck dieser MT sollte es sein, sich auf eine offene Auseinandersetzung zwischen dem Staat und den Anhängern der christlichen Glaubensbekenntnisse, die damals von vielen der letzteren erwartet wurde, vorzubereiten. Da sich vor allem unter den damaligen "Erwachsenen" niemand in unserer Heimat fand, der an aktive Gegenwehr dachte, bzw. der mutig eine solche Organisation ins Leben rief, so hatten wir beschlossen, wenigstens das zu tun, was wir als junge Menschen tun konnten. Wir wußten wohl, daß wir von der ersten Minute unseres Beginnens an mit einem Fuß im Konzentrationslager, vielleicht auch im Grab standen.
Ich selbst stand L., der der Führer der MT war, als sein Vertreter zur Seite. Wir sammelten in einigen Ortschaften unserer Heimat gleichgesinnte Jungen, stärkten ihre Gesinnung durch Schriften, Rundschreiben und Berichte über die verbrecherische Tätigkeit von Gestapo, Partei u.a. Da es sehr schwer war, solchen Jugendlichen ihre Begeisterung für HJ, Soldatentum und ähnliche Ideale auszutreiben, ja sie zu Hassern des Nationalsozialismus zu machen, so wurde die MT wie eine Art Organisation von zukünftigen Kämpfern aufgezogen, und es wurden Ränge und Führerämter ins Leben gerufen.
Doch es gab manche Enttäuschung, Jungen, denen man es beinahe ansah, daß sie mit HJ und Nazistaat nichts zu tun haben wollten und dies sogar öffentlich zeigten, waren nicht willens, der MT beizutreten wegen der damit verbundenen Gefahren. Strengste Maßnahmen und wenn nötig auch Drohungen schützten die MT vor Verrat durch solche unvermeidlichen Mitwisser. Im Laufe der Zeit wurden Verbindungen zu entfernten Orten, eine sogar bis nach Westfalen aufgenommen. Wir waren immer aufs schärfste darauf bedacht, die Organisation geheim zu halten, sogar den eigenen Eltern gegenüber, was oft notwendig war. Manchem blieben darüber die inneren Kämpfe nicht erspart. Wir sahen selbst der Geistlichkeit gegenüber auf strengste Verschwiegenheit, damit man im Falle einer Entdeckung durch die Gestapo dieser nicht die Schuld geben konnte. Nach und nach wurde ein Spionagesystem aufgezogen, wo alle Nachrichten, auch die geringsten, von militärischen Anlagen, Waffenlagern, SS-Einheiten, Gestapo und ähnlichen Dingen gesammelt wurden. Selbst die Sprengstoffvorräte der Gruben wurden nicht vergessen. Der Zweck war, im Falle der Not schnellstens bewaffnet zu sein, wie ich auch sonst bereits Pläne zur Bewaffnung der Truppe hegte. Es war nicht leicht, eine solche Truppe zu führen und für ihre Sicherheit verantwortlich zu sein. Wenn auch viele Jugendliche begeisterte Anhänger waren, die Tod und Teufel nicht fürchteten, so fragte ich mich doch oft, ob es zu verantworten sei, solche jungen Menschen für ein so gefährliches Beginnen zu gebrauchen. Aber machte nicht der Staat aus ihnen Soldaten? Und zudem, konnte man sich auf die Jugend mehr verlassen, als auf die Alten? Es war nicht Leichtsinn, es war Mut, was diese Jugend veranlaßte, sich auf unsere Seite zu schlagen.
L. und ich waren uns klar darüber, daß wir die Begeisterung nur schüren konnten, indem wir ihnen immer wieder sagten, sie seien nicht allein. Hätte ich damals den ersten 10 Jungen erklärt, sie wären die ersten Zehn der Michaeltruppe, sie wären nie fest geblieben. Ich dachte aber nicht daran, diese jungen Menschen zu hintergehen. Es war der einzige Weg, den Anfang zu machen. Am 8. August wurde ich plötzlich von der Gestapo Koblenz verhaftet. Mit mir wurden drei weitere Kameraden festgenommen, darunter auch L. Ein anderer war am Tage zuvor verhaftet worden, ein weiterer folgte uns am nächsten Morgen. Es gab Hausdurchsuchungen und Verhöre. Der Erfolg war für die Gestapo nicht groß. Bei mir fand man einige Manuskripte. Alles andere war von uns so sorgsam versteckt gewesen, daß nichts zu finden war. Wie sich später herausstellte, war die Gestapo durch Briefunterschlagung, deren Grund nichts mit der MT zu tun hat, durch Zufall in den Besitz einer meiner doppelt eingeschlagenen Briefe gelangt, die ich an einen Jungen gesandt hatte.
Wir wurden in der Arrestanstalt Neuwied in Einzelzellen untergebracht und tagelangen Verhören unterzogen. Ein Kriminalrat Oswald von der Gestapo Koblenz, der übrigens auch den Namen Obersturmbannführer Wünstdorf führte, leitete die Untersuchung. Die Kameraden konnten dank der wohldurchdachten Sicherheitsmaßnahmen nicht viel aussagen. L. und ich verrieten nichts, vielmehr gelang es uns, viele uns zur Last gelegte Taten als bloßen Bluff darzustellen und damit zu retten, was noch zu retten war. Es gelang mir sogar, einige unter Verdacht stehende Kameraden vor der Festnahme zu bewahren. Trotzdem glaubte uns die Gestapo nicht, die Führer der MT zu sein, sondern vermutete immer noch Hintermänner. Die Angabe eines einzigen Geistlichen z. B. hätte uns die Freiheit einbringen können, gleich ob er schuldig war oder nicht. Wir verweigerten. Nach einem Monat zermürbender Einzelhaft bei kärglicher Kost wurden wir zur Beobachtung nach dem HJ-Erziehungslager Stahleck am Rhein gebracht. Bei guter Verpflegung wurden wir einem strengen militärischen Drill unterzogen, so daß wir in den ersten Wochen kaum Zeit zum Atemholen hatten. Da weitere Nachforschungen der Gestapo erfolglos blieben, wurden die vier anderen Kameraden nach vier Wochen entlassen. Man hatte sie als Mitläufer bezeichnet.
Für L. und mich wurde das Leben langsam immer erträglicher, wenn auch die Lagerleitung nicht vergaß, uns immer wieder als Hochverräter zu bezeichnen und auf ein kommendes Gerichtsverfahren hinzuweisen. Zum Schluß genossen wir viele Freiheiten. Zwischendurch unterzog man uns immer wieder strengen Verhören. Endlich erlaubte man unseren Eltern kurze Besuche. Man versuchte einige Male, uns starke Hoffnung auf Freiheit zu machen, falls wir uns freiwillig zur Waffen-SS melden würden und gleichzeitig auch unsere Verbindung mit der katholischen Kirche lösten. Wir lehnten beides ab.
Am 8. 12. 1943 wurden wir plötzlich nach Koblenz zur Gestapo zurückgebracht. Ein Gestapobeamter erklärte uns, er hätte uns nach Moringen zu bringen, einem Lager ähnlich dem von Stahleck. Obwohl ich den Worten des Beamten nicht glaubte, begann ich eigentlich gegen meine Vernunft Hoffnung zu schöpfen, zumal Moringen für mich ein spanisches Dorf war und der Beamte auch etwas von "einem viertel Jahr" gemurmelt hatte. Ich glaube, L. ging es nicht besser. Durch Moringen, der volle Name lautete "Jugendschutzlager Moringen/Solling", war ein Jugendkonzentrationslager. Hier war der Ausbund der Jugend eines dritten Reiches und seiner Jugenderziehung vertreten. Die Überzahl der Häftlinge hatte alle möglichen Verbrechen auf dem Kerbholz. Dazu kamen einige hundert Jugendliche, die aus irgendwelchen Gründen, sei es Leichtsinn oder zerrüttete Familienverhältnisse, einmal auf die schiefe Bahn geraten waren. Oft hatten die Jungen einen guten Kern, aber in solcher Umgebung wurden sie alles andere als besser. Überhaupt trugen die sittlichen Ideen der nationalsozialistischen Weltanschauung sehr oft die Haupt-, schuld an den Vergehen dieser kriminellen Häftlinge.
Häftlinge, die aus rein politischen Gründen hierher gebracht worden waren, gab es wenige. Man konnte sie fast an den Fingern abzählen. Erst gegen Ende 44 nahm unsere Zahl stark zu durch die Einlieferung von jungen Partisanen aus Jugoslawien-Österreich.
Hunger, schwerste Arbeit und dauernde Schikanen der Wachmannschaft wirkten nicht so deprimierend, wie diese Schmach einer Umgebung von Verbrechern. Dazu keinerlei Hoffnung auf Entlassung, strengste Postzensur. Die Zeit verstrich langsam. Ich fragte mich oft, ob mein Körper nicht doch eines Tages verzagen werde, wie es bei so vielen geschehen war. Es kostete viel Energie in diesem Lager, wo man eine Nummer war, eine Maschine, nicht auch noch den Glauben an sich selbst zu verlieren, nicht zu vergessen, daß man Mensch war und nicht Tier.
Am 20. Juli 1944 stand auch bei uns der Tod vor der Tür. Der SD stand bereit, uns im Falle des Umsichgreifens eines Putsches zu erschießen. Doch die Gefahr ging noch einmal vorüber. Im Frühjahr 45 begannen plötzlich die Wachmannschaften, uns besser zu behandeln. Es waren die ersten Anzeichen eines nahen Zusammenbruchs. Im April wurden wir auf dem Rückführungsmarsch nach Osten von amerikanischen Truppen befreit.