Sven-Erich Czernik, Ständiger Vertreter der Schulleiterin
Name und Bedeutung
Liebe Schülerinnen und Schüler,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
verehrte Anwesende!
Lassen Sie uns gemeinsam zu einer kurzen Zeitreise aufbrechen!
Wir schreiben das Jahr 1962. Seit fünf Jahren hat das Kurfürst-Salentin-Gymnasium ein neues Schulhaus, in dessen zentralem Gebäudeteil wir uns hier befinden, und das dort endet, wo jetzt der Hausmeisterkiosk liegt. Die Schulgemeinschaft ist zu einer Feierstunde zusammen gekommen.
Die Lehrer tragen sämtlich Anzug, wie es damals Alltag und nicht nur für Feiern gebräuchlich war. Lehrerinnen und Schülerinnen gibt es fast nicht, das erste Mädchen wurde überhaupt erst drei Jahre zuvor am KSG aufgenommen. Also sitzen nur Jungen in der Aula. Sven-Erich Czernik ist erst neun Jahre alt, geht in die 3. Klasse der Volksschule und darf noch nicht dabei sein.
An der Wand der Aula hängt eine Gedenktafel mit den Namen der im Ersten und Zweiten Weltkrieg durch Kriegseinwirkung ums Leben gekommenen ehemaligen Schüler des Gymnasiums. Davor die steinerne Plastik einer Pietà aus ortsüblichem Material, im Geist der Zeit gestaltet. Beide Elemente zusammen bilden ein Mahnmal, das heute eingeweiht werden soll. Ein Hinweis auf durch nationalsozialistische Gewalt und Terror umgekommene jüdische Mitschüler - fehlt.
Welche Bedeutung haben die angeschriebenen Namen für die Anwesenden? Manch ein Schüler liest dort den Namen seines Großvaters. Allenfalls die ältesten unter ihnen könnten auch den Namen ihres eigenen Vaters finden. Dass es nicht mehr Schüler sind, liegt an dem zeitlichen Abstand zum Ende des Zweiten Weltkriegs: es braucht nun einmal etwa 18 Jahre von der Zeugung bis zum Primaner...
Anders fühlen die Lehrer oder Ehemaligen. Wes Name dort geschrieben stand, der konnte Schulfreund, Nachbar oder Verwandter gewesen sein, und natürlich Kamerad, mit dem zusammen man im Schützengraben gelegen hatte, in irgendeinem fernen Land, in dem wir Deutschen nichts zu suchen hatten.
Die Teilnehmer der Feier hatten einen unmittelbaren persönlichen Bezug zu den Verstorbenen, und wo ein solcher nicht bestand, war ihnen zumindest bewusst, dass es solche Bezüge in ihrem sozialen Umfeld gab.
Siebzehn Jahre waren ins Land der Täter, der Mitläufer und der Zuschauer gegangen, ins Land des fleißigen Wiederaufbaus und des unverhofften Wirtschaftswunders. Deutschland hatte in nur drei Jahrzehnten zwei Weltkriege vom Zaun gebrochen, beide verloren und war geteilt worden.
Seit einem Jahr stand die Berliner Mauer. Der im Westen lebende Teil unserer Nation hatte eine erhebliche Aufbauleistung vollbracht und sich ein für allemal für friedliche und demokratische Verhältnisse im Rahmen einer provisorischen Verfassung, Grundgesetz genannt, entschieden.
Deren Artikel 1 bestimmt unverrückbar: "Die Würde des Menschen ist unantastbar."
Deutschland hatte wiederholt und aggressiv die Würde seiner Nachbarn angetastet, war auch wegen der in der NS-Zeit begangenen Gräueltaten international verfemt, deutsche Bürger im Ausland nur bedingt willkommen. Zum Abbau der Aversionen mögen unsere bewunderten wirtschaftlichen Leistungen, gepaart mit politischer Zurückhaltung und der erklärten Einbindung in internationale Gemeinschaften wie etwa NATO oder EWG beigetragen haben. Wes Lebenszeit jedoch vollständig durch Aufbauarbeit mit dem Ziel, zumindest materiell an den Status der Dreißiger Jahre anzuknüpfen, in Anspruch genommen wird, der findet oft nicht die Muße, die Vergangenheit sozial, mental oder gar juristisch aufzuarbeiten. Sehr weitgehende Einigkeit aber bestand in der Auffassung, von deutschem Boden dürfe nie wieder Krieg oder Terror gegen Minderheiten ausgehen. Eine Namensliste der Kriegstoten war somit auch ein Mahnmal für jetzige und künftige Schülergenerationen, ein Bekenntnis zur Friedfertigkeit, zum Gewaltverzicht und zur Toleranz.
Die Täter selbst hatten erst recht kein Interesse am Bekanntwerden ihres Tuns. Obwohl die Strafverfolgungsbehörden - von Juristen aus der NS-Zeit durchsetzt - von Amts wegen verpflichtet waren, die von Deutschen begangenen Verbrechen zu ahnden, kamen systematische Ermittlungen wegen des Holocaust erst anfangs der Sechziger Jahre ins Rollen - der erste Auschwitz-Prozess würde erst ein Jahr nach unserer Feier beginnen. Indes sind Schüler unseres Gymnasiums nicht nur durch Waffeneinwirkung, sondern auch durch staatlichen Terror und industriell organisierten Massenmord ums Leben gekommen. Diese Erkenntnis führte dazu, einige Jahre später eine Tafel hinzuzufügen, die - etwas abseits platziert und in kleinerer Schrift - jene ehemaligen Schüler nannte, die nur deswegen einen gewaltsamen Tod erlitten hatten, weil sie Juden waren.
Kehren wir aus unserer Zeitreise in die Gegenwart zurück!
Seit jener Feierstunde sind 54 Jahre ins Land gegangen. Zwei Generationen. Wer von uns allen hat schon eine persönliche Beziehung zu seinem Ur- oder gar Ururgroßvater? Und wer im Zweiten Weltkrieg einen Schulfreund oder Kameraden bei Kampfhandlungen verloren hatte, ist jetzt deutlich über 90 Jahre alt. Die Generation der aktiven Kriegsteilnehmer stirbt aus, in wenigen Jahren wird sie ganz erloschen sein. Ein persönlicher oder sozialer Bezug, wie er vor einem halben Jahrhundert gang und gäbe war, besteht nicht mehr. Ein angeschriebener Name weckt nicht mehr Erinnerungen, sondern wirkt nur noch als Fanal: "Nie wieder!"
Damit er aber als solches wirken kann, muss er auf lebende Menschen wirken können, ihren Wahrnehmungsgewohnheiten entsprechen, auf sich aufmerksam machen. Ins Auge fallen.
Zwei optisch wenig ansprechende, blass und antiquiert wirkende Tafeln - hier tote Krieger, da tote Juden - kombiniert mit einem behauenen Basaltblock, dessen Intention dem unbefangenen Betrachter unklar bleibt, noch dazu als schlecht ausgeleuchtetes Ensemble in einem Raum, der schon lange nicht mehr als Versammlungsort, sondern allenfalls für Kunstausstellungen und als Durchgangsfläche dient und überdies seit Jahrzehnten nicht renoviert wurde. Das soll ein Mahnmal für die jetzige Generation sein?
Einige Kolleginnen und Kollegen, Schülerinnen und Schüler konnten dem nicht folgen. Angeregt durch die Salentiner, die Vereinigung der ehemaligen Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler des Kurfürst-Salentin-Gymnasiums, entstand innerhalb eines Projekts von Geschichts- und Kunstkursen im Jahr 2013 die Idee, diese unbefriedigende und nicht mehr zeitgemäße Situation durch eine Umgestaltung der Gedenkstätte zu einem verbindenden Ort des Erinnerns und Nachdenkens zu ändern.
In einem mehrjährigen Prozess, den hier zu umreißen viel zu weit führen würde, ist eine aktive "Denkstätte", ein "lebendiges Mahnmal" entstanden. Ein Ort von Schülern sowohl für Schüler als auch für die Mitglieder des Kollegiums. Viele haben an der Konzeption und Entstehung dieses Ortes mitgewirkt, viele werden das Mahnmal auch weiterhin gestalten und prägen.
Ihnen allen sei für ihre unermüdliche Beharrlichkeit und ihren persönlichen Einsatz an dieser Stelle ausdrücklich gedankt!
Der verbindende Charakter dieses Ortes entsteht nicht allein dadurch, dass hier der Menschen gedacht wird, die einmal Teil der Schulgemeinschaft waren. Der Ort wird allgemein Raum schaffen für Trauer und Erinnerung an Menschen, die Opfer von Gewalt wurden, und er wird die Frage nach Ursachen und Folgen von Krieg und Gewalt lebendig halten.
Unsere Denkstätte blitzt funkelnagelneu und ist scheinbar fertig. Drei Namensgruppen fallen auf, von oben nach unten sind dies
- • die Toten des Ersten Weltkriegs
- • die Opfer der Judenverfolgung in der NS-Zeit - nun zentral und in gleicher Schriftgröße
- • die Toten des Zweiten Weltkriegs
Holocaust und Weltkriege sind Geschichte. Gewalt und Intoleranz sind Gegenwart. In diesem Sinne ist unser Mahnmal unfertig, denn niemand von uns kann sicher sein, dass es nicht um weitere Namen ergänzt werden muss. Vielleicht um ehemalige Schüler, die von einem Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan nicht mehr heimkamen, vielleicht um jetzige Schüler, die als Angehörige einer religiösen oder ethnischen Minderheit oder als sonstwie unpassend Empfundene von Ewiggestrigen auf offener Straße zusammengeschlagen wurden?
Wegen Krieg oder wegen Intoleranz wollen wir niemals wieder Namen schreiben müssen.
Reden
- Schulleiterin
Birgit Vogel - Vors. Salentiner
Gerd Schumann - Stellv. Schulleiter
Sven-Erich Czernik - Statssekretär
Clemens Hoch - MdL
Marc Ruland - Foto:
Stella Weber