Dr. Wolfgang Fischer:
Ernst Loeb und sein "Skandalanzeiger Karneval 1933"
Der junge Ernst Loeb kam Ostern 1925 als Sextaner an das Stiftsgymnasium und ging Ostern 1933 ab. Er war ein Schüler, der sich politisch aktiv betätigte und in der Schlußphase der Weimarer Republik auch in seiner Klasse heftige politische Diskussionen führte, wobei er ab und zu auch die Klingen mit seinem Freund Josef Hansen kreuzte, was jedoch ihrer Freundschaft keinen Abbruch tat. Er war in der Klasse das einzige Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) und der SPD. Er besaß, was damals selten war, ein Vervielfältigungsgerät, auf dem er politische Schriften und Flugblätter hektographierte, und trat auch als Redner bei Veranstaltungen der SPD auf. Ernst Loeb war also jemand, der sich politisch sehr exponierte, so daß man bei ihm mehrere Haussuchungen vornahm, wobei man nach verbotenen politischen Schriften suchte. Er wurde 1933 auch kurzfristig verhaftet. Nähere Umstände dieser Ereignisse lassen sich heute jedoch nicht mehr feststellen.
In Andernach heißt es allgemein, daß Ernst Loeb 1933 von der Schule "geflogen" sei. Diese Auffassung beruht nicht zuletzt darauf, daß Loeb selbst mehrmals behauptete, er sei von der Schule geworfen ("herausgeschmissen") worden. Auffallend ist in diesem Zusammenhang, daß es im Falle Ernst Loeb keinen Konferenzbeschluß gab, der ihn von der Schule wies oder dem Vater den dringenden Rat gab, seinen Sohn von der Schule abzumelden, was allgemein mit dem Terminus consilium abeundi umschrieben wurde. Den schulischen Quellen kann man lediglich entnehmen, daß Ernst Loeb Ostern 1933 die Schule verließ, "um einen Beruf zu erlernen", nachdem man ihm die Versetzung in die Oberprima verweigert hatte. Das war allerdings zu einem Zeitpunkt, an dem die Schulverwaltung die diskriminierenden Maßnahmen gegen die Juden noch nicht offiziell angeordnet hatte.
Im Lehrerkollegium, in dem nach den Aussagen mancher ehemaliger Schüler außer Studienrat Brochhagen kein Freund der Sozialdemokraten saß und in dem der ehemalige Schüler Carl Bertram Hommen ab 1929/30 eine Rechtsruck feststellte, machte Loeb sich mit seinem politischen Engagement für die Sozialisten wohl keine Freunde. Jedoch scheint er deswegen in der Schule nicht benachteiligt worden zu sein. Bei dem Abgang Loebs hat wohl viel eher eine Rolle gespielt, wie man sich in Kreisen der Klassenkameraden erzählte, daß das Lehrerkollegium sich durch Beiträge in dem von Loeb veröffentlichten "Skandal Anzeiger Karneval 33" verächtlich gemacht fühlte. Die dort gebrachten Beiträge nahmen besonders Dr. Johannes Schwab direkt ins Visier. Die in dieser Ausgabe der Salentiner-Nachrichten abgedruckten Auszüge bestätigen diesen Eindruck. Wenn man sich in Erinnerung ruft, wie "sauer" das Lehrerkollegium auf den einen oder anderen als unqualifiziert empfundenen Beitrag der "Abi-Zeitungen" der letzten Jahre und Jahrzehnte reagierte, kann man die Empörung des Lehrerkollegiums von 1933 durchaus nachempfinden.
Ernst Loeb blieb in Andernach bis 1936. Vor seiner Emigration arbeitete er noch in Kassel bei einer jüdischen Institution, die die Auswanderung in das britische Mandatsgebiet in Palästina organisierte. Die Auswanderer waren junge Leute, die verheiratet sein mußten, um überhaupt die Genehmigung zu erhalten, ins Mandatsgebiet einwandern zu dürfen. Wegen dieser Klausel wurden in Deutschland zahlreiche Scheinehen geschlossen. Diese Praktiken wurden durch die orthodoxe Judenschaft heftig kritisiert. Durch seine Arbeit in Kassel ermöglichte Loeb das Zustandekommen solcher Scheinehen und verhalf so jungen Juden zur Einreise nach Palästina. Schließlich emigrierte Ernst Loeb selbst.
Er zog zunächst nach Italien, anschließend nach Haifa in Palästina. Das Leben im englischen Mandatsgebiet sagte ihm jedoch offensichtlich nicht zu, deshalb wanderte er 1938 in die Vereinigten Staaten aus und ging nach Philadelphia, wo bereits andere Juden aus Andernach lebten und wo er seinen Onkel Otto Loeb mit seiner Familie und bald auch seine Eltern wiederfand. In den USA war er zunächst völlig mittellos und mußte sich sein Brot durch harte körperliche Arbeit verdienen, ehe es ihm gelang, eine Stelle in einem Büro zu finden. Ernst Loeb heiratete Margot Sonnenberg, eine deutsche Jüdin aus Düsseldorf, deren Erwerbstätigkeit es ihm schließlich gestattete, ein Universitätsstudium aufzunehmen. Er wurde Professor für Neuere deutsche Literatur, zunächst in Saint Louis, dann in Seattle (1960-1964). Er hielt auch Gastvorlesungen in Vancouver, ehe er durch die Vermittlung eines Kollegen Professor an der Universität in Kingston/Ontario (Kanada) wurde. Wie Josef Hansen berichtete, spielte bei der Übersiedlung nach Kanada unter anderem auch der politische Grund eine Rolle, daß Loeb mit Ausnahme von J. F. Kennedy alle amerikanischen Präsidenten ablehnte und die amerikanische Vietnampolitik scharf mißbilligte.
Wiedersehen mit Andernach nach dem Krieg
Als Ernst Loeb im Jahre 1951 erstmals wieder nach Deutschland zurückkehrte, hatte er den Gedanken, sich wieder in Deutschland niederzulassen, noch nicht aufgegeben. Auf dieser Reise sprach er nämlich unter anderem bei Professor Dr. Carlo Schmid vor, um zu ergründen, ob es für ihn eine Möglichkeit gebe, als Studienrat in den deutschen Schuldienst übernommen zu werden. Dieser Plan scheiterte jedoch daran, daß Loeb nicht über die erforderlichen laufbahnpolitischen Voraussetzungen verfügte und auch argwöhnte, daß der Antisemitismus in Deutschland noch zu stark sei.
Die Salentiner-Nachrichten vermitteln ein recht anschauliches Bild davon, wie er wieder den Kontakt zur Stadt Andernach und zu seinen ehemaligen Klassenkameraden, der Abiturientia 1934, fand. Danach stattete er während der Deutschlandreise des Jahres 1951 seiner ehemaligen Heimatstadt einen ersten kurzen Besuch ab, ehe er im Jahre 1966 das zweite Mal nach Andernach kam. Seit dieser Zeit brach der Kontakt zu Andernach nicht mehr ab, und Prof. Loeb pflegte ihn durch regelmäßige Reisen nach Deutschland und Besuche in Andernach. Rein äußerlich zeigte sich dies unter anderem in der Tatsache, daß er 1966 der "Vereinigung ehemaliger Salentiner" als Mitglied beitrat.
In jenem Jahr unternahm Prof. Dr. Ernst Loeb, der damals an der Universität von Seattle im amerikanischen Bundesstaat Washington tätig war, mit seinen Studenten eine Studienreise nach Europa, um ihnen vor allem die Bundesrepublik Deutschland zu zeigen. Die Reisegruppe kam am 17. Juni 1966 in Deutschland an. Die wichtigsten Etappen der Studienreise waren das Rheinland, Salzburg und Berlin.
Die Rückreise nach Amerika sollte am 15. September stattfinden. Aus diesem Grunde wurde das für den 24. September 1966 geplante Klassentreffen der Abiturientia 1934 auf den 19. August vorgezogen, damit Ernst Loeb daran teilnehmen konnte. Man traf sich im Roten Ochsen, einem Speiselokal am Markt, machte anschließend einen gemeinsamen Ausflug zum Laacher See und beendete den Tag wieder im Roten Ochsen.
Vor seiner endgültigen Abreise in die USA kam Prof. Loeb mit seiner Frau im September nochmals nach Andernach, und diesmal gaben Bürgermeister Walter Steffens und der Erste Beigeordnete Werner Klein den beiden Gästen einen großen Empfang im Rathaus, an dem auch die Fraktionsvorsitzenden der im Stadtrat vertretenen Parteien teilnahmen. Anwesend waren auch Stadtamtsrat Josef Hansen, der alte Freund und Klassenkamerad Loebs seit seiner Schulzeit am Andernacher Stiftsgymnasium, sowie Stadtamtmann Herbert Schmidt.
Nicht alle, die einst ihre Heimat hätten verlassen müssen, sagte der Bürgermeister, brächten es fertig, "alte Verbindungen zur Heimat wieder aufzunehmen". Der Familie Loeb bewahre man in Andernach ein gutes Andenken. Man wisse sehr wohl auch hier, welches Schicksal vielen Menschen im Namen unseres Volkes bereitet worden sei. Er erinnerte aber auch daran, daß Andernach als erste deutsche Stadt Freundschaft mit einer Stadt in Israel geschlossen habe. Erst kürzlich habe er den Brief eines anderen alten Andernachers erhalten, der heute in Haifa lebe und seiner Freude über diesen Schritt seiner Vaterstadt zum Ausdruck gebracht habe. "Wir wollen wenigstens versuchen, für unsere Kinder eine Brücke zu bauen, über die sie wieder zueinander finden können", betonte Bürgermeister Steffens. Als kleine Andenken überreichte er dem Gast dann zwei Stiche von Andernach sowie Frau Loeb ein Blumenangebinde.
In seiner Antwort sagte Prof. Dr. Loeb, ein eigenartiges Gefühl beschleiche ihn, wenn er wieder durch die Straßen seiner Heimatstadt gehe. Es sei ihm in diesen Tagen sehr deutlich zum Bewußtsein gekommen, daß er Andernach viel zu verdanken habe. Er werde auch weiterhin bestrebt sein, die Freundschaft zur Stadt und zu seinen Schulkameraden zu erhalten - "trotz allem, was geschehen ist. Das Bekenntnis zur Heimat und zur Muttersprache ist ein Bekenntnis zu uns selbst und zu unserem besseren Ich." Mit dieser Meinung stehe er nicht nur für sich selbst, sondern auch für seine Familie und seinen verstorbenen Vater.
Seit dieser Zeit pflegte Prof. Dr. Ernst Loeb den regelmäßigen Kontakt mit Andernach. Im November 1967 nahm er wieder an einem Klassentreffen der Abiturientia 1934 teil, das diesmal im Hunsrück bei seinem Klassenkameraden Willy Fuchs stattfand. Dabei ließ er es sich nicht nehmen, darüber auch einen kurzen Bericht für die Salentiner-Nachrichten zu schreiben. Auch die Festschrift, die das Kurfürst-Salentin-Gymnasium 1973 anläßlich seiner Vierhundertjahrfeier herausgab, wurde von ihm mit einem Beitrag bedacht.
Im Jahre 1969 lud die Stadt Andernach zusammen mit zahlreichen anderen Persönlichkeiten auch Prof. Loeb zur Eröffnungsfeier der Ausstellung "Documenta Judaica" im Rathaus ein. Über seinen Redebeitrag schrieb die Rheinzeitung: "Professor Dr. Ernst Loeb, der besonders starken Beifall für seine Worte erhielt, erinnerte an den Anteil des jüdischen Volkes an deutscher Kultur und an deutschem Geistesleben. Aus dieser Symbiose und aus diesem deutsch-jüdischen Zusammenleben wirke innere Kraft fort. Es gelte, diese Verwobenheit der jungen deutschen Generation zum Bewußtsein zu bringen. Er freue sich, sagte der Redner, und er sei stolz darauf, daß seine Vaterstadt diese Aufgabe erkannt habe. Gebe es für die meisten keine Rückkehr in die alte Heimat mehr, so eröffne sich hier die Möglichkeit einer inneren Heimkehr."
1981 trat Ernst Loeb mit einem kleinen Gedichtband hervor, dem er den Titel "Rizinus für Seelennöte" gab und im Atelier Verlag Andernach herausbrachte. Ihm folgte ein weiterer Gedichtband "Hoffen darf die Erde", der 1985 im selben Verlag erschien. Gegen Ende des Jahres 1985 wurde er bei einem Empfang im Faculty-Club der Universität Kingston (Ontario/Canada) mit dem Großen Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. "Mit dieser Ehrung", so hieß es danach in den Salentiner-Nachrichten, "sollten das Lebenswerk Prof. Loebs und seine Verdienste um das deutsche Ansehen im Kanada und in den Vereinigten Staaten gewürdigt werden". Prof. Dr. Ernst Loeb starb in Kingston am 15. September 1987 an Herzversagen.
Die Liebe zu Andernach hat Prof. Dr. Ernst Loeb 1952, ein Jahr nach seinem ersten Nachkriegsbesuch in der Stadt, zu einem Gedicht inspiriert, dem er den Titel "An meine Vaterstadt" gab. Seine Witwe brachte es im Jahr 1988 anläßlich der 2000-Jahr-Feier nach Andernach. Man kann es also als das Vermächtnis dieses großen Andernachers betrachten. Ich habe es bei der Enthüllung der Gedenktafel für die ermordeten jüdischen Schüler unserer Schule am 23. Juni 2001 vorgetragen und in den Salentiner-Nachrichten 2002 abgedruckt. Da diese Ausgabe der Salentiner-Nachrichten einem Abiturjahrgang überreicht werden wird, der dieses Gedicht noch nicht kennt, sei es an dieser Stelle noch einmal gebracht.
An meine Vaterstadt
Stätte meiner Kindheitstage,
Kleine Stadt am großen Strom,
Heimat, die ich in mir trage,
Turm und Gasse, Tor und Dom,
Ihr, der Kindheit frühe Bilder,
Mir für immer eingeprägt
Und um die sich heut' ein milder
Zauber des Erinnerns legt:
Erstes Schauen und Erfassen
Rankt um eure Formen sich,
Denn es bargen jene Gassen
Meine ganze Welt in sich.
Nie kannst du mir Fremde werden
Kleine alte Stadt am Rhein,
Denn von allem auf der Erden
Bist nur du in Wahrheit mein.
Dieses Band ist unzerschnitten
Durch der Zeiten irren Wahn:
Was ich fern von dir gelitten,
Hat man dir und mir getan.
Oft, in traumverlornen Stunden,
Kehr ich hoffend bei dir ein,
Von der Fremde zu gesunden
Und um ganz Ich selbst zu sein.