Früheres Abi heißt nicht früherer Studienbeginn!
Am 16. März 2002 wurden 56 Abiturientinnen und Abiturienten des Kurfürst-Salentin-Gymnasiums erstmals nach zwölfeinhalb Jahren Unterricht ins Leben entlassen. Daß die frühere Hochschulreife nicht einen früheren Studienbeginn einschloß, mußten viele von ihnen erkennen.
Doch zuerst einmal alles in chronologischer Reihenfolge. Bereits Anfang 1998 wurde über eine Neuordnung der Mainzer Studienstufe (MSS) diskutiert. Im November 1998 lagen dann erstmals konkrete Pläne des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Weiterbildung (MBWW) für die flächendeckende Einführung einer MSS -Reform vor. Diese sahen vor, die MSS von sechs auf fünf Halbjahre zu verkürzen, die Abiturzeugnisse bereits zum 31. März auszuhändigen und bereits in Jahrgangsstufe 11 in Leistungs- und Grundkursen zu unterrichten. Mit dieser Reform sollte den Abiturienten ein Studienbeginn bereits zum Sommersemester jeden Jahres ermöglicht werden. Somit nähert man sich europäischen Standards, die das Abitur bereits nach zwölf Jahren vorsehen.
Einige Schulen in Rheinland-Pfalz führten die "Neue MSS" bereits zum Schuljahr 1998/99 ein, das KSG 1999/2000. Die ersten zwei Jahre in der MSS wiesen kaum Unterschiede - trotz der x-ten Reform - zu den Vorgängermodellen auf. Die Qualifikationsphase begann lediglich schon im Halbjahr 11/2, und nur teilweise machte sich die Komprimierung des Lernstoffes bemerkbar. Andererseits war es den Schülern hier schon möglich, sich an die Leistungsnachweise in Form von Kursarbeiten zu gewöhnen, die später weiter auf dem Plan standen. Dies war sicherlich ein Vorteil.
Gravierende Differenzen traten erst Ende des Halbjahres 12/2 bzw. zu Beginn 13/1 auf. Bereits in 12/2 hörte man von Lehrerseite immer öfter: "Diesen Sachverhalt können wir leider nicht vertiefen; dafür haben wir keine Zeit. Das müßt ihr dann zu Hause selbständig erarbeiten." Besonders die Naturwissenschaften und die Mathematik waren von dieser Problematik betroffen.
Der Zeitmangel potenzierte sich dann in Jahrgangsstufe 13, welche am 13. August 2001 begann. Alle noch nicht behandelten Themen, gleich in welchem Fach, wurden auf den Lehrplan gerufen. Zusätzlich sollten alle vorher behandelten Themen, die für die Abiturprüfung relevant waren, noch einmal kurz wiederholt werden. Es erhöhte sich also nicht nur der Lernstoff im Unterricht selbst, sondern auch der Zeitaufwand nach dem Unterricht. Wollte man wirklich in die Materie eindringen, so mußte der Schüler den doppelten bis dreifachen Zeitaufwand einkalkulieren. Daß bei soviel Masse die wirkliche Klasse zum Mangel wurde, ist selbstverständlich.
Der Zeitmangel wurde nochmals dadurch verstärkt, daß durch die MSS- Reform die unterrichtsfreie Zeit zwischen schriftlichem und mündlichem Abitur (wie sonst üblich) entfiel. So mußte der Abiturient nicht nur für das Abitur lernen, sondern auch noch die Zeit in der Schule absitzen.
Alles in allem kann man sagen, daß die Verkürzung der Unterrichtszeit nicht wirklich Vorteile gebracht hat. Und auch das deklarierte und anvisierte Ziel des früheren Studienbeginnes wurde für den Großteil der Abiturienten hinfällig. Dies hatte wiederum verschiedene Gründe. Zum einem wurden diverse Studiengänge zum Sommersemester nicht oder nur an weit entfernten Universitäten außerhalb von Rheinland-Pfalz angeboten, zum anderen bestand für zulassungsbeschränkte Studienfächer, wie Medizin, Biologie, Jura u.v.a. eine Anmeldefrist. Diese endete aber bereits am 15. Januar 2002, zu einen Zeitpunkt, an dem der Schulabgänger noch gar keine Zulassung, d. h. kein Abitur in der Tasche hatte. Nur vereinzelt akzeptierten Universitäten eine Anmeldung ohne Abiturzeugnis und mit Hinweisen auf die MSS- Reform. Die Zeugnisse mußten dann später nachgereicht werden. In den meisten Fällen jedoch wurde auf das nächste Semester verwiesen. Auch bei zulassungsfreien Studiengängen wurde häufig die Immatrikulation verwehrt, da noch keine allgemeine Hochschulreife vorlag.
Für die männlichen Abiturienten stand ein Studienbeginn zum Sommersemester 2002 sowieso außer Frage. Sie hatten zuvor noch Wehr- oder Ersatzdienst zu leisten. Hier taten sich weitere Schwierigkeiten auf. Zumindest für die Wehrdienstverweigerer. Da der Vorgängerjahrgang noch nach altem Muster Abitur gemacht hatte, waren noch viele Zivildienststellen bis Mai oder Juni belegt. Was also tun in der Zeit von März bis Juni? Wer Glück hatte, konnte einen Aushilfsjob ergattern und ein wenig Geld verdienen. Andere absolvierten mit noch mehr Glück ein Praktikum zur Studienvorbereitung und wieder andere fuhren einfach in Urlaub oder spannten nach dem vielen Streß im halben Jahr zuvor zu Hause aus. Es wurde also alles andere getan, nur nicht studiert.
Wenn man als Abiturient des Jahrganges 2002 und als Zivildienstleistender Glück hatte, ist man rechtzeitig zum Beginn des Sommersemesters 2003 fertig. Hier stellt sich dann wieder die Frage, ob der gewünschte Studiengang angeboten wird. Wer allerdings erst im Juli oder August seinen Zivildienst aufnehmen konnte, der muß mit dem Wintersemester 2003/04 vorlieb nehmen. Dies hätte er mit dem Abitur nach dreizehn Jahren auch gekonnt. Dafür hätte es keiner erneuten Reform bedurft.
Abschließend ist zu sagen, daß auch die x-te MSS- Reform nicht die Ideallösung darstellt. Wenn im MBWW wirklich der Impetus besteht, die Schullandschaft an europäische Modelle anzugleichen, dann sollte man über eine grundlegende Reform nachsinnen und nicht erst kurz vor dem Abitur versuchen, Versäumtes nach zu holen. Das Abitur nach zwölfeinhalb Jahren ist eher kontraproduktiv. Es verringert Quantität und Qualität des Lernstoffes. Der einzige richtige Vorteil der Reform ist die Kostenersparnis. Durch das Einsparen von 140 Lehrerstellen landesweit werden die Ausgaben im Hause des Ministeriums um rund 6,5 Millionen Euro reduziert. Das ist der wahre Zweck der Reform!