Aufmerksam verfolgt das Publikum den Diavortrag
PD Dr. Udo Reinhardt:
EINFÜHRUNG IN DEN ANTIKEN MYTHOS UND SPÄTERE TRADITIONSGLIEDER AM BEISPIEL DES EINZELTHEMAS ‚DANAE UND DER GOLDREGEN‘
Salentiner-Forum 2009
Was Mythos allgemein ist, entzieht sich zunehmend einer präzisen Definition, da sich das Bedeutungsspektrum neuerdings geradezu unglaublich ausgeweitet hat. Fast jede Persönlichkeit im Blickpunkt der Öffentlichkeit hat heutzutage ihren ‚Mythos‘ (z.B. Mao-tse-tung oder Marilyn Monroe), desgleichen fast jedes entsprechende Objekt (z.B. VW-Käfer oder Botticellis Gemälde ‚Nascita di Venere‘), Phänomen (z.B. Wirtschaftswunder oder Finanzkrise) und jedes ‚event‘ (z.B. realhistorisch der Untergang der Titanic 1912; fiktional ‚Dinner for One‘ als Pflichtübung an Silvester).
Was antiker Mythos ist, lässt sich schon genauer definieren, und zwar im weiteren Wortsinn als die im Verlauf der gesamten Antike entstandenen Einzelmythen, im engeren Wortsinn als die griechisch-römischen Mythen, die Gustav Schwab in seinem populären Buch ‚Die schönsten Sagen des klassischen Altertums‘ zusammengefasst hat. Dabei werden Mythos und Sage traditionell als Synonyme verwendet, obwohl sich z.B. zwischen frühgriechischen Mythen und mittelalterliche Sagen erhebliche inhaltliche Unterschiede ergeben.
Bei den griechischen Mythen unterscheidet man die frühgriechischen Primärbildungen (z.B. Herakles im Kampf mit dem Nemeischen Löwen oder das von Odysseus mit Hilfe der Göttin Pallas Athene ersonnene Troianische Pferd) und spätere Sekundärbildungen (etwa die isolierten Erzählkerne hellenistischer Mythennovellen wie Philemon/Baukis oder Narkissos/Echo). Sekundärbildungen sind auch die römischen Mythen, die als Produkte eines neuen Nationalgefühls im Verlauf der weiteren europäischen Tradition einige Bedeutung gewonnen haben (z.B. die Fahrten des Aeneas; Romulus/Remus und die Wölfin).
Relativ genau zu bestimmen sind inzwischen auch die vielfältigen altorientalischen Voraussetzungen (z.B. Basiselemente wie Götterdynastien, Weltalter, Paradies/Elysion, Unterwelt, Seelenwägung, Sintflut; Einzelelemente wie Kyklopen, Sirenen, Tritonen, Sphinx, Kentauren, Pegasos), von denen sich der frühgriechische Mythos vor allem unterscheidet durch die Einführung der Heroen/Heroinen als eigene Gruppierung, die Verlagerung des Schwerpunkts von den Götter- zu den Heroenmythen und die innerhalb der Heroendynastien gegebene Vernetzung der Gesamthandlung, schließlich durch die für die weitere Entwicklung bestimmende Gesamttendenz zum Anthropomorphismus.
Was die Struktur des frühgriechischen Mythos betrifft, so ergeben sich als spezifische Grundkategorien (gerade im Vergleich mit späteren fiktionalen Spielarten wie Sagen und Märchen) die weitgehend präzise Fixierung erstens nach realen räumlichen Gegebenheiten (Orte, Landschaften, Länder) des alten mykenisch-minoischen Kernraums, in dem sich nach den sog. ‚dunklen Jahrhunderten‘ eine neue panhellenische Identität entwickelte, zweitens nach einem fiktiven zeitlichen Gesamtrahmen, und zwar zunächst in der Zeit der Götter von den Urgottheiten über die Titanen bis zu den Olympiern, dann in der Zeit der Heroen von den ersten Stadtgründern über die ‚Märchenhelden‘ (Perseus, Bellerophon), die großen Heldenpersönlichkeiten (speziell Herakles, Theseus, Oidipus) und die Phase der großen Unternehmungen (Sieben gegen Theben, Argonautenfahrt, Kalydonische Eberjagd) bis zum Gesamtkomplex der Trojanischen Krieges; drittens nach fiktiven göttlichen, halbgöttlichen und menschlichen Persönlichkeiten, die genealogisch und dynastisch denkbar eng miteinander vernetzt sind. Zu diesen Grundkategorien gehört viertens die grundlegende Bedeutung des Göttlichen im Blick auf seine wesentlich bestimmende Beteiligung am mythischen Gesamtgeschehen sowie fünftens die Integration des mythischen Geschehens in einen göttlichen Schicksalsplan, die vor allem wahrnehmbar wird im Geschlechterfluch gegen Labdakiden bzw. Tantaliden und in dem schicksalhaften Krieg um Troia.
Was nun den Einzelmythos ‚Danae und der Goldregen‘ angeht, so ist die Heroine Danae heute fast nur noch der älteren Generation bekannt (etwa aus konventionellen Kreuzworträtseln: Zeusgeliebte mit 5 Buchstaben). Den Goldregen kennt man aus dem praktischen Leben als Gartenziergewächs (Laburnum = Bohnenbaum); Schmetterlingsblütler, mit goldgelben Blütendolden im Mai/Juni, äußerst giftig durch das Alkaloid Cytisin. Zu diesem Einzelmythos findet sich in der Bibliotheke des griechischen Mythographen Apollodor (1.Jh.v./n.Chr.) folgendes Referat (2, 34-35; ergänzender Nachtrag 2,47):
Akrisios befragte das Orakel (von Delphi) wegen männlicher Nachkommenschaft und erhielt von dem Gott (Apollo) die Antwort, seine Tochter werde einen Sohn gebären, der ihn selbst ums Leben bringen werde. Dadurch erschreckt, baute Akrisios ein unterirdisches ehernes Gemach (nach anderen Quellen einen Turm), worin er Danae bewachen ließ. Doch sie wurde dennoch schwanger, wie einige sagen, von Proitos; nach Meinung anderer von Zeus, der, in einen Goldregen verwandelt, durch das Sparrenwerk des Daches in den Schoß der Danae herabrieselte und ihr so beiwohnte. Es währte nicht lange, da erfuhr Akrisios, seine Tochter habe den Perseus geboren. Allein dass sie von Zeus schwanger geworden sei, glaubte er ihr nicht. Daher legte er die Tochter samt dem Knaben in eine Kiste und warf sie ins Meer. Die Kiste trieb am Ufer der Insel Seriphos an; (der Fischer) Diktys nahm den Knaben heraus und sorgte für dessen Erziehung. …. (Der erwachsene) Perseus eilte nach Argos, um Akrisios zu sehen. Der aber verließ Argos aus Furcht vor dem Orakelspruch und begab sich ins Pelasgerland. Auch Perseus stellte sich dort ein (bei einem sportlichen Fünfkampf), traf beim Werfen des Diskos den Fuß des Akrisios und tötete ihn auf der Stelle.
Diese Geschichte bietet im Rahmen der Heroenmythen alle Grundkategorien in exemplarischer Weise: Akrisios war König von Argos, einem Mythenzentrum in der östlichen Peloponnes, relativ nahe bei Mykene, wo viele Generationen später Agamemnon als König herrschte, ganz nahe bei Tiryns, wo gleichzeitig Proitos als Zwillingsbruder des Akrisios König war, und recht nahe bei Lerna, wo Herakles etwa drei bis vier Generationen später die Lernäische Hydra bekämpfte (reale räumliche Schärfe). Die Zwillingsbrüder lebten zwei Generationen nach dem Mord der Danaiden an den Söhnen des Aigyptos, bei dem nur Hypermnestra ihren Gatten Lynkeus in der Hochzeitsnacht am Leben gelassen hatte und später von ihm den Sohn Abas bekam. Akrisios` unerwünschter Enkel Perseus war dann seinerseits ein Urahn des großen Herakles (fikitive zeitliche Schärfe). Aus diesen Angaben ergibt sich zugleich eine enge Vernetzung der am mythischen Geschehen beteiligten Hauptpersonen, speziell was die Rolle der feindlichen Zwillingsbrüder und das Geschehen zwischen Danae und dem höchsten Olympier Zeus betrifft (fiktive personale Schärfe).
Die beiden letzten Grundkategorien hängen ganz eng zusammen in der Weise, dass König Abas bei seinem Tod verfügt hatte, seine beiden Söhne sollten die Herrschaft in jährlichem Wechsel ausüben (was ihm die Zwillinge durch Eid bestätigten). Als sich dann Akrisios nicht an diese verbindliche Abmachung hielt und damit gegen die unverbrüchlichen Gesetze der obersten Schicksalsinstanz, der Göttin Themis, verstieß, blieb für ihn als Strafe zunächst die männliche Nachkommenschaft aus. Seine Anfrage beim delphischen Orakel kündigte ihm den Tod durch seinen Enkel als Zielpunkt der göttlichen Bestrafung an. Diesen schicksalhaften Ausgang konnten weder das Einsperren der Tochter noch die Aussetzung mit ihrem Sohn oder Akrisios` späteres Ausweichen vor dem erwachsenen Enkel vermeiden. Die Liebesgeschichte mit dem höchsten Gottes erklärt sich nicht vordergründig aus dessen Neigung zu der schönen Heroine, sondern steht in direktem Zusammenhang mit dem verhängnisvollen Strafplan gegen den Eid- und Vertragsbrecher Akrisios.
Im Rahmen dieser Zusammenfassung kann auf die interessanten Varianten dieses Einzelmythos im Verlauf der antiken und späteren Rezeptionsgeschichte nur am Rande eingegangen werden. Die ursprünglich ganz ernsthafte Geschichte von der Begegnung des Göttervaters mit der schönen Heroine erscheint literarisch noch ohne Erwähnung des Goldregens schon in Homers Ilias (14, 319f.), mit Nennung dieses Details erst Anfang des 5. Jahrhunderts bei dem frühen Mythographen Pherekydes und dem Chorlyriker Pindar (Pythien 10, 44f.; 12,9ff.), bildlich mit dem Goldregen zum ersten Mal auf einem attisch rotfigurigen Kelchkrater des Triptolemosmalers (um 480 v.Chr.; heute St.Petersburg, Ermitage; Abb.1). Mit aufgeklärt-rationalistischer Tendenz wurde dann offenbar schon in verlorenen griechischen Mythentravestien (1.Hälfte 4.Jahrhundert) der Goldregen zum bloßen Trick des lüsternen Göttervaters, während die Tochter des Akrisios nur noch ganz vordergründig die Rolle des schönen Mädchen im Turm spielte (Mozarts Motto: ‚Sperrt die Zuckerplätzchen ein!‘). In der Trivialisierung ‚Mal kommt Zeus als Goldregen, mal als richtiger Regen‘ diente der alte Tragödienstoff auch als netter Gag in einem bürgerlichen Lustspiel des berühmten Komödiendichters Menander (Samia 589ff.; um 300/280 v.Chr.).
Spätestens bei dem augusteischen Dichter Horaz ergibt sich unter dem durchaus ernsthaften Aspekt ‚Gold, Geld und wahrer Reichtum‘ die ebenso nahe liegende Gleichsetzung Gold = Geld (Oden 3,16,1ff.): „Die eingeschlossene Danae hätten der eherne Turm, die robusten Türflügel und die garstigen Außenposten wachsamer Hunde genügend vor nächtlichen Heimsuchungen geschützt, wenn nicht über Acrisius, den ängstlichen Wächter des versteckten Mädchens, Jupiter und Venus gelacht hätten: gab es doch einen sicheren, weit offenen Weg für den in Geldwert verwandelten Gott (converso in pretium deo).“ Dass damit die hehre Heroine in bedenkliche Nähe zu einer billigen Hetäre rückt, bestätigt – übrigens schon m Anschluss an eine witzige Passage aus dem Eunuchus des römischen Komödiendichters Terenz (584fff; uraufgeführt 161v.Chr.) - die spätantike Gedichtsammlung der Anthologia Graeca (z.B. Antipatros von Thessalonike 5,31,5-6, Parthenion 5, 33-34, Paulos Silentiarios 5, 217, und mit schamloser Offenheit Straton 12, 239: „Wie, Fünf Drachmen verlangst du? Zehn geb ich, du kriegst sogar zwanzig. Reicht dir ein Goldstück dafür? Danae war es genug!“). Entsprechendes findet sich dann auch mit apologetischer Tendenz in der gleichzeitigen christlich-patristischen Literatur.
Parallel zu solchen Vorstellungen wird später aus Danaes mythischer Amme bzw. Dienerin eine ganz gewöhnliche Kupplerin. Diese Variante erscheint in der Bildtradition seit der Renaissance noch eher zurückhaltend in Francesco Primaticcios Fresko aus der Galerie François I. in Fontainebleau (1537-39), dann schon drastischer in Tizians zweitem Gemälde zum Thema (1554; heute Madrid, Prado) und in einem ebenso figurenreichen wie witzigen Frühbarock-Bildensemble von Henrick Goltzius (1603; heute Los Angeles, County Museum). Unter den zahlreichen Nachfolgern ragt das Gemälde von Giovanni Battista Tiepolo (1735; heute Stockholm, Universität) als geistreiches Spiel mit Tradition und Aufklärung heraus. Den Schlusspunkt dieser Entwicklungslinie setzt Max Slevogts Gemälde (1895; heute München, Lenbachhaus), das nicht nur durch seinen drastischen Realismus und die Bordellatmosphäre, sondern allein schon wegen des bezeichnenden Doppeltitels Die neue Danae = Die Kuppelei seinerzeit in einem Ausstellungsskandal das Münchener Kunstpublikum schockierte.
Ganz im Gegensatz zu dieser heiklen Interpretation macht die heidnische Heroine in der mittelalterlich-allegorischen Auslegung des antiken Mythose eine erstaunliche Karriere als christliches Muster der Reinheit (castitas) und Keuschheit (pudicitia) – und das in unmittelbarer Entsprechung zur Jungfrau Maria und deren Empfängnis. Der gelehrte Kleriker, der im Ovide moralisé (um 1310/20) die Hauptgeschichten aus Ovids Metamorphosen in altfranzösischen Kurzversen nach scholastischem Schema des vierfachen Schriftsinns ausdeutete, erzählt den Danae-Mythos zunächst ausführlich (4, 5382-5489) nach Ovid (Metamorphosen 4, 604-614) als historische Geschichte (selonc l`estoire). Es folgt eine kurze symbolische Interpretation (als fable; 5490-5523), dann eine überhöhende allegorische Ausdeutung (l` allegorie, que ceste fable signifie: 5524-5572), schließlich als höchste Stufe die Auslegung im sensus anagogicus, im Blick auf das christliche Heilsgeschehen (5573-5636). Insgesamt meine der Goldregen Gottvater in der himmlischen Glorie, Danae die Jungfrau Maria, die in ihrem Schoß von Gottvater Christus empfanget, den Gottessohn, der zugleich wahrer Gott und wahrer Mensch sei. Der Turm symbolisiere den ‚sanften Bauch der Jungfrau‘, aus dem Perseus/Christus geboren werde; Akrisius, der die Geburt verhindern wolle, verkörpere das böse jüdische Volk, das schon von der Geburt Christus verfolgte. Die knappe Zusammenfassung (5637ff.): „Gesagt habe ich euch die Fabel und die Geschichte von Gott, der in den verschlossenen Turm hinabstieg als Goldregen, wie er die Jungfrau schwanger machte, wie von Gott ein Sohn geboren wurde und von der Schönen, empfangen durch göttliche Tugend.“
Wenn man im christlichen Umfeld des Hochmittelalters nach weiteren Motivparallelen sucht, so stößt man auf eine alte Märtyrerlegende, die schon lange in Ost- und Westkirche bekannt war, dann aber, etwa um die Zeit, als auch der Ovide moralisé entstand, erweitert wurde um einen respektablen Vorbau, der weitgehende Parallelen zum alten Danae-Mythos mit ingeniösen Umdeutungen im Sinne der christlichen Heilslehre aufweist. Diese Traditionskontinuität wird greifbar im Detail des Turmes, der in Bildbelegen etwa ab 1350 auftaucht (z.B. in einem Gemälde aus Stift Strahov in Prag um 1390; Abb.2). Nach den erhaltenen Quellen lässt sich die neue Heiligenlegende folgendermaßen zusammenfassen:
Es lebte zur Zeit des Kaisers Maximian (um 300/305 n.Chr.) in Nikomedia (Hauptstadt von Bithynien in NW-Kleinasien) ein heidnischer Landpfleger namens Dioskuros, ein Verehrer der Götzenbilder, ausgezeichnet durch Adel des Geschlechtes und Überfluss an zeitlichen Gütern; der hatte eine bildschöne Tochter namens Barbara. Weil sie aber so schön war, liebte sie ihr Vater sehr; deshalb schloss er sie ein in einen sehr hohen Turm, den er für sie hatte bauen lassen, damit sie von niemand gesehen werde. Es war aber die selige Barbara geistvoll, und schon im zarten Alter fing sie an, göttlichen Dingen nachzusinnen; doch fehlte ihr noch die Erkenntnis des wahren Gottes; die falschen Götzen indes verachtete sie insgeheim. Als aber Kunde kam, der weiseste der Männer, Origenes (der bekannte Kirchenvater), lebe in Alexandria, schickte sie ihm heimlich per Boten einen Brief mit ihren Gedanken. Origenes, über die Wissbegierde des Mädchens erfreut, gab dem Boten ein Antwortschreiben mit, worin er von der Dreieinigkeit Gottes sprach und vom ewigen Leben, das die erwerben, die um Christi willen ihr Leben lassen. Zugleich schickte er ihr zusammen mit Büchern den Lehrer Valentinus, den Barbara mit höchster Verehrung in ihrem Turm aufnahm. Als sie nun ihr Vater besuchte, sah er den unbekannten Mann und fragte bebend: „Wer ist das und warum ist er hier?“ Barbara antwortete: „Er ist ein erfahrener Arzt, dessen Lehrer in Alexandria die Profession hat, auch Seelen zu heilen.“ Als das der Vater hörte, war er zufrieden und gestattete der Tochter Umgang mit ihm. Und Valentinus unterwies sie über die Dreieinigkeit Gottes und über die Taufe Christi. Da bat Barbara den Vater, ihr (im oder direkt neben dem Turm) ein Badehaus einzurichten. Und der Vater stellte eine große Zahl Handwerker ein, damit es schnell fertig werde, und zahlte ihnen im Voraus den Lohn; dann verreiste er für länger. Als nun das Werk fast fertig war, befahl das Mädchen den Handwerkern, zu den zwei Fenstern im Turm, die sie auf Anordnung des Vaters nach Süden gebrochen hatten, noch ein drittes zu machen; die Handwerker gehorchten ihr widerstrebend. Da ging nun die untadlige reine Barbara im fertigen Wasserbecken umher und wandte sich nach Osten; als sie aber durch das heilende Becken hinausging und wieder hinauf auf den Turm stieg, empfing sie den Heiligen Geist, den mannigfaltigen, alles durchdringenden, reinen, klaren, scharfsinnigen, starken. Es durchströmte sie wahrhaftig die Kraft Gottes und der Abglanz der Glorie des Allherrschers. Und als der Vater, von der Reise zurückgekehrt, den fertigen Bau sah, fragte er zunächst die Handwerker, dann seine Tochter nach dem dritten Fenster. Sie antwortete ihm: „Drei Dinge erleuchten jeden Menschen, zwei aber bedeuten Finsternis für die Gottlosen.“ Und als ihr Vater mit ihr in das Wasserbecken stieg und sie fragte: „Warum erleuchten drei mehr als zwei?“, antwortete die heilige Barbara: „Drei sind Vater, Sohn und Heiliger Geist.“ Da wurde ihr Vater zornig und ergriff sein Schwert, um sie zu töten.
Am Anfang dieser Legende steht dieselbe Konstellation wie im Danae-Mythos mit dem Vater, der die schöne Tochter in einen hohen Turm einschließt (hier im christlichen Umfeld natürlich nicht wegen des Orakels einer heidnischen Gottheit, sondern ganz immanent aus liebender Eifersucht). Als Vorbote des mythischen Goldregens kommt hier der christliche Lehrer Valentinus aus Alexandria, um Barbara, die für die erhellende seligmachende Kraft des Evangeliums im wahrsten Sinne des Wortes längst empfängnisbereit ist, Dreieinigkeit und Taufe Christi zu vermitteln. Und im Anschluss an ihre Taufe erstrahlt als Pendant des mythischen Goldregens der alles durchdringende, reine, klare Heilige Geist, Abglanz der Glorie des Allherrschers (man sieht bei diesem Text geradezu Nimbus und Gloriole). Und die Erkenntnis der Dreieinigkeit Gottes, symbolisiert im dritten Fenster des Turms, löst ihr Martyrium aus, als der Vater, eben noch mit der Tochter im Taufbecken, doch ohne Bereitschaft zur Bekehrung (entsprechend seine im Blick auf die Fenster mehr als seltsame Frage: „Warum erleuchten drei mehr als zwei?“), gleich anschließend das Liebste, was er hat, tötet bzw. töten lässt, weil es sich nicht mehr nach seinem Willen verhält (ein fetter Happen für moderne Psychologen!).
Nach dem heidnischen Mythos aus der Antike und der christlichen Legende aus dem Mittelalter sind abschließend noch zwei zu dieser Motivreihe gehörende Märchen aus der späteren europäischen Erzähltradition zu behandeln. Dabei geht es zunächst um das Grimmsche Märchen ‚Die Sterntaler‘ (Kinder- und Hausmärchen Nr. 153), dessen Inhalt folgendermaßen zusammengefasst werden kann (zur Illustration dient die alte Radierung von Ludwig Richter um 1850; Abb.3):
Es war einmal ein kleines armes Waisenmädchen, das hatte weder ein Kämmerchen zum Wohnen noch ein Bettchen zum Schlafen, und schließlich hatte es nur noch die Kleider auf dem Leib und ein Stückchen Brot in der Hand. Es war aber gut und fromm. Und weil es so von aller Welt verlassen war, ging es im Vertrauen auf den lieben Gott hinaus aufs Feld. Da begegnete ihm ein Bettler, dem gab es das ganze Stückchen Brot. Und einem Kind, das fror am Kopf, gab es die Mütze; und einem anderen das Leibchen, und einem dritten das Röckchen. Und als es in den Wald kam und es schon dunkel geworden war, gab es einem vierten Kind auch noch das Hemdchen. Und wie es so dastand und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne vom Himmel und waren lauter harte blanke Taler; und ob es gleich sein Hemdlein weggegeben, so hatte es ein neues an von allerfeinstem Linnen. Da sammelte es sich die Taler hinein und ward reich für sein Lebtag.
Diese ebenso kurze wie einprägsame Geschichte bietet eine eher äußerliche Motivparallele: wie im Mythos einst Zeus als Gold- bzw. Geldregen in den Schoß der Danae kam. so fallen hier die Sterne vom Himmel als Talersegen Gottes auf das fromme Waisenmädchen herab – mit der spezifisch christlichen Märchenmoral, dass Freigebigkeit Gott wohlgefällig ist und mit reichem Lohn bedacht wird. Man denke an das Scherflein der armen Witwe im Neuen Testament oder an die Legende vom heiligen Martin, der dem armen Bettler die Hälfte seines Mantels abgibt – nicht ganz so großzügig wie das Mädchen im Märchen. Zu den Hauptergebnissen der Märchenforschung zählt bekanntlich, dass Themen und Motive in Märchen nicht Primärbildungen aus altem völkischem Erzählgut sind, sondern durchweg Sekundärbildungen zu älteren literarischen Vorlagen, Geschichten, Legenden, Sagen oder Mythen. Zur Bestätigung dieses Tatbestandes ist noch eine weitere, erheblich interessantere Parallele zum Danae-Mythos zu betrachten, in der das italienische Zaubermärchen ‚Petrosinella‘ aus der Sammlung Pentamerone (1674) des Neapolitaners Giovanni Battista Basile (2,1) variiiert wird und die auch heute noch recht bekannt. Die Geschichte um Rapunzel aus der Sammlung der Brüder Grimm (Kinder- und Hausmärchen Nr. 12; zur Illustration der Holzschnitt von Dora Polster 1911; Abb.4) lässt sich in seinem Hauptteil so zusammenfassen:
Als Rapunzel, das schönste Kind unter der Sonne, zwölf Jahre alt war, schloss die Zauberin, bei der es aufwuchs, ihr Ziehkind in einen Turm, der weder Treppe noch Türe hatte; nur ganz oben war ein kleines Fensterchen. Wenn die Zauberin hinein wollte, so stellte sie sich unten hin und rief: „Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter!“. Und dann löste Rapunzel ihre zu Zöpfen geflochtenen, prächtig langen Haare, fein wie gesponnen Gold, ließ sie zwanzig Ellen tief herunterfallen, und die Zauberin stieg daran hinauf. Nach ein paar Jahren ritt der Sohn des Königs durch den Wald, kam an dem Turm vorüber, hörte den schönen Gesang des einsamen Mädchens und wollte zu ihr hinaufsteigen; doch fand er weder Tür noch Treppe. Als er nun Tag um Tag unten am Turm stand, beobachtete er einmal, wie die Zauberin zu Rapunzel hinaufstieg; und den folgenden Tag, als es anfing, dunkel zu werden, ging er zu dem Turme und rief ebenfalls: „Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter!“. So kam er statt der Zauberin hinauf; nach dem ersten Schrecken verlor Rapunzel schnell ihre Angst; und als er sie fragte, ob sie ihn zum Manne nehmen wolle, und sie sah, dass er jung und schön war, so dachte sie: „Der wird mich lieber haben als die alte Frau Gothel.“ Also sagte sie ja und legte ihre Hand in seine Hand. Und fortan kam er alle Abende zu ihr; bei Tag kam weiter die alte Zauberin. Doch einmal verplauderte sich Rapunzel vor ihr: „Warum fällt es mir nur viel schwerer, Frau Gothel, Sie heraufzuziehen als den jungen Königssohn? Der ist immer in einem Augenblick bei mir.“ – „Ach, du gottloses Kind,“ rief die Zauberin, „was muss ich von dir hören? Ich dachte, ich hätte dich von aller Welt geschieden, und du hast mich doch betrogen!“ Und sie schnitt Rapunzel die schönen langen Haare ab und brachte das Mädchen in eine Wüstenei, wo sie in großem Jammer und Elend weiterlebte. Als aber der Königssohn am nächsten Abend an den goldenen Haaren, die die Alte am Fensterhaken festgemacht hatte, nach oben stieg, fand er nicht seine Herzallerliebste, sondern die Zauberin, die ihn mit bösen und giftigen Blicken ansah. Da geriet er außer sich, und in der Verzweiflung sprang er den Turm herab. Das Leben brachte er davon, aber die Dornen, in die er fiel, zerstachen ihm die Augen. Und so irrte er jahrelang im Elend umher und geriet schließlich in die Wüstenei, wo Rapunzel kümmerlich lebte mit den Zwillingen (Knabe und Mädchen), die sie geboren hatte. Und als er ihre Stimme vernahm, fand er die Liebste wieder, und zwei von Rapunzels Tränen benetzten seine Augen; da wurden sie wieder klar, und er konnte sehen wie zuvor. So führte er sie in sein Reich, und sie lebten noch lange glücklich und vergnügt.
Rapunzel kam in den Turm, als sie zwölf Jahre alt war – genau um die Zeit der einsetzenden Menstruation; der Turm erscheint hier als Pendant zur Menstruationshütte in den Initiationsriten der Naturvölker bei der Neuaufnahme eines Mädchens in den Frauenverband des Stammes. Dazu passt das Detail, dass sie ihre goldfarbenen Haare, bisher zu Zöpfen geflochten, nun löst, wenn sie erst die alte Zauberin herauflässt, später auch den jungen Mann. „Ich dachte, ich hätte dich von aller Welt geschieden“ – diese Worte, mit denen hier die Zauberin das Scheitern ihres Repressionsversuches gegen die einsetzende Sexualität ihres Ziehkindes zusammenfasst, könnte ebenso Akrisios nach der Geburt seines Enkels zu Danae gesagt haben. Und wie Danae dank dem göttlichen Goldregen Perseus, so bringt hier Rapunzel als Spätfolge der allabendlichen Besuche des Königssohnes gleich zweieiige Zwillinge zur Welt. Nur entspricht die boshafte Reaktion der Zauberin gegenüber Rapunzel bzw. Königssohn weitgehend der psychologischen Variante, dem alten Motiv der Eifersucht des Vaters auf den Freier der Tochter.
Im begrenzten Rahmen dieser Zusammenfassung kann nicht weiter auf die breite Nachwirkung eingegangen werden, die der Mythos ‚Danae und der Goldregen‘ in der Neuzeit gefunden hat, sei es in Literatur, Theater und Oper (bis hin zur komplexen Behandlung des Themas durch Hugo von Hoffmannsthal und J. Gregor im Libretto der Oper Die Liebe der Danae von Richard Strauss 1944/1952), sei es in der Kunsttradition seit der Renaissance, in der - ganz im Gegensatz zum spätmittelalterlichen Exempel von castitas und pudicitia - nun die sinnliche Hingabe der schönen Frau (Typ Venus bzw. Leda) dominiert, z.B. in dem Gemälde (um 1531; heute Roma, Galleria Borghese), das der große Correggio für das Schlafzimmer des Herzogs Federico II. Gonzaga in Mantova malte (mit einer mädchenhaft zarten Danae und einem jugendlichen Amorknaben, der ihr bei der Empfängnis des Goldregens sekundiert; unten rechts ein Putten-Duo wie aus Raffaels Madonna Sistina in Dresden), oder auch in Primaticcios Fresko um 1540 aus der Galérie Francois I. in Fontainebleau (mit einer kraftvollen Michelangelo-Heroine, die, in gelassener grandezza gelagert, ihre langen Beine für den Goldregen öffnet, der durch eine helle Wolke von dem weißen Gipsgesicht Jupiters in der Randdekoration herabfließt; links als Randfiguren zwei Amorini und die Magd mit empfangsbereitem Krug). Solche Bilder sind ebenso Spiegelbild eines sich verändernden Zeitgeistes wie die reichen Bildbelege des Barock, unter denen Rembrandts Meisterwerk (um 1636; heute St.Petersburg, Ermitage) durch ungewöhnliche Sinnlichkeit, erlesene Intimität und ingeniöse Variationen des traditionellen Bildschemas hervorragt.
Gleiches gilt für die neuere Gesamttradition des Themas, bis hin zur hochästhetischen Stilisierung in Gemälden von Viktorianern (Edward Burne-Jones, Danae and the Tower of Brass 1888, heute Glasgow, Kelvinggrove Museum) und Jugendstil (Gustav Klimt, Danae 1907/08; heute Roma, Galleria Nazionale d` Arte Moderna) sowie den zunehmend anti-ästhetischen Gegenentwürfen in neuester Zeit (Motto: ‚die nicht mehr schönen Künste‘; z.B. Slevogt, Schiele, Delvaux, Ljuba). Den vorläufigen Abschluss bilden zwei Belege aus der letzten, eher banalisierend-trivialisierenden Rezeptionsphase, einerseits das Gemälde Danae II (1972; New York, Frumkin Gallery) des amerikanischen neoclassicist Jack Beal, der das alte Bildschema Danae/Magd verlagert in die Schlafsack-Atmosphäre der new generation zwischen Woodstock und hippie-happening; andererseits ein aktuelles Urlaubsfoto von der Place Centrale des südfranzösischen Städtchens Apt, aufgenommen en passant an einem Sonntagnachmittag im April 2003. Deshalb war bedauerlicherweise auch nicht zu klären, ob etwa in diesem Salon mit dem Firmenschild DANAÉ COIFFURE über dem Schaufenster ein Haarspray mit Goldregen-Parfum verabreicht wird oder es gar unter den Klientinnen dieses Etablissements eine signifikant höhere Schwangerschaftsrate an Göttersöhnen oder Menschenkindern geben sollte als anderswo. Es bleibt eben doch noch einiges offen, auch beim Standardthema ‚Danae und der Goldregen‘.